Thüringer Allgemeine (Apolda)

Abrechnung mit der großen Koalition

Union und SPD wurden bei den Wahlen abgestraft. Für die SPD-Vorsitzend­e Andrea Nahles wird es eng, in der CDU regt sich ebenfalls Kritik

- Von Tim Braune und Kerstin Münsterman­n

Als um 18 Uhr die ersten Prognosen über die Bildschirm­e in den Parteizent­ralen von CDU, CSU und SPD flimmerten, war klar, dass es für die Volksparte­ien ein schlimmer Wahlabend wird. Für die SPD kommt es ganz finster.

Schauplatz Willy-BrandtHaus, Parteizent­rale der SPD:

Totenstill­e bei den Sozialdemo­kraten. Niemand im gut gefüllten Atrium der Parteizent­rale klatscht. Bis zuletzt hatte die SPD gehofft, dass sie in Sachen Europa mit einem blauen Auge davonkommt. „Leute, ihr seid der Wahnsinn“, hieß es noch vor Schließung der Wahllokale in einer WhatsApp-Nachricht an SPD-Sympathisa­nten. Von „#SozenLiebe“ist da die Rede. Die Wähler lieben nur noch wenig an der ältesten deutschen Partei. Rund 1,3 Millionen Wähler verliert die SPD bei Europa an die Grünen. Die Ökopartei liegt erstmals bei einer nationalen Wahl auf Platz zwei.

Ist das die Wachablösu­ng bei den Volksparte­ien? Der Blick in den Norden, wo die Weser immer rot war, spendet an diesem historisch­en Abend keinen Trost. In der einstigen SPDHochbur­g Bremen gewinnt nach 73 Jahren wohl erstmals die CDU. Vielleicht schafft es SPD-Bürgermeis­ter Carsten Sieling, sich im ersten rot-grün-roten Bündnis im Westen an der Macht zu halten.

Jetzt werden sie in der SPD nach Schuldigen suchen. Im Endspurt gab die Partei ein verheerend­es Bild ab. Die bei der Abkehr von Hartz IV bewiesene Geschlosse­nheit zerbröselt­e mit jedem Tag, den die Wahlen näher rückten. Juso-Chef Kevin Kühnert fiel Nahles mit einem kühnen, aber wenig durchdacht­en Sozialismu­s-Ritt in den Rücken. Danach wurde die Vorsitzend­e mit Durchstech­ereien an die Medien madig gemacht. Rechnungen werden beglichen. Der von Nahles ausgeboote­te Sigmar Gabriel legt am Abend nach. Er fordert von ihr sofortige Konsequenz­en. „In Berlin müssen jetzt diejenigen Verantwort­ung übernehmen, die den heutigen personelle­n und politische­n Zustand in der SPD bewusst herbeigefü­hrt haben“, sagt er dem „Tagesspieg­el“. Gabriel führte fast acht Jahre die SPD.

Um 18.43 Uhr kommt die Parteichef­in auf die Bühne. „Die Ergebnisse, die wir bisher kennen, sind für die SPD extrem enttäusche­nd.“Die Grünen seien nun zweitstärk­ste Kraft. „Ich sage in Richtung Grüne: Glückwunsc­h!“In Bremen stünden die Grünen bei RotGrün-Rot vor einer Richtungse­ntscheidun­g: „Wollen sie eine progressiv­e Mehrheit, ja oder nein?“Der eigenen Partei ruft Nahles ein „Kopf hoch“zu. Das gilt für sie selbst auch. Freiwillig will die 48-Jährige keine Macht abgeben. Dass es am Montag im Parteivors­tand einen Aufstand gibt, gilt als eher unwahrsche­inlich. Der Aufstand der frustriert­en „Silberrück­en“Schulz und Gabriel kann ihr helfen. Nahles bittet um Rückendeck­ung. Die SPD müsse zusammenha­lten und in der Koalition für sozial gerechte Politik sorgen. Reicht das? Oder wollen die GroKo-Gegner den Exit?

Europa-Spitzenkan­didatin Katarina Barley („Ich habe alles gegeben. Mehr ging nicht“), die nach Brüssel geht, schickt noch am Abend ihr Rücktritts­gesuch an die Kanzlerin. Mitte der Woche will Nahles eine neue Justizmini­sterin präsentier­en. Eng könnte es im September werden. Dann wählen Brandenbur­g und Sachsen, danach muss Nahles sich in der Fraktion zur Wiederwahl stellen. Ein Machtverlu­st in Potsdam könnte zu viel für die gedemütigt­e Partei sein.

Schauplatz Konrad-AdenauerHa­us, Parteizent­rale der CDU:

Annegret Kramp-Karrenbaue­r (AKK) ist vorgewarnt. Die im Frühjahr in Umfragen gesetzte Marke von 30 Prozent war in den letzten Wochen gerissen worden. Die 56-jährige Saarländer­in weiß, dass es für sie unbequemer wird in der CDU.

Die CDU-Chefin tritt zusammen mit dem EVP-Spitzenkan­didaten Manfred Weber und dem CSU-Chef Markus Söder um kurz nach halb sieben vor die Presse. Ihre Botschaft ist kämpferisc­h. Das Wahlziel, stärkste Kraft zu werden, sei erreicht. Manfred Weber habe ein klares Mandat aus Deutschlan­d bekommen, an die Spitze der EU als Kommission­spräsident zu wechseln. Sie erwarte, dass die SPD dies mittrage.

Die CDU-Chefin führt die Verluste auch auf die teils wenig überzeugen­de Arbeit der großen Koalition zurück. Bei der Regierungs­arbeit habe es nicht die Dynamik gegeben, die die Bürger erwarteten, sagt Kramp-Karrenbaue­r. Sie räumt Fehler ein, etwa beim Klimaschut­z und bei dem Umgang mit der digitalen Welt. Dafür würde man die Ärmel hochkrempe­ln. Applaus im Adenauer-Haus.

CSU-Chef Markus Söder analysiert: „Alte Maßstäbe, wie wir sie bislang hatten, gelten nicht mehr.“Er fordert: „Wir müssen als Union insgesamt daran arbeiten, wieder jünger, cooler, offener zu werden. Wir müssen mit den Themen und der Kommunikat­ion so agieren, dass wir nicht von gestern wirken.“

Söder spielt hier an auf den ungelenken Umgang mit dem millionenf­ach geklickten AntiCDU-Video des Youtubers Rezo. Darin heißt es, die CDU zerstöre mit Blick auf das Thema Klimaschut­z „unser Leben und unsere Zukunft“. Die CDU reagierte spät, zu spät. In der Partei ist vielen zwar bewusst, dass der Umgang mit der digitalen Kritik schwierig ist. Doch das späte Krisenmana­gement lastet man dem jungen Generalsek­retär Paul Ziemiak durchaus an.

„Ich habe alles gegeben. Mehr ging nicht.“

Katarina Barley, Europa-Spitzenkan­didatin der SPD

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FOTO: WOLFGANG KUMM SPD-Chefin Andrea Nahles sagt ihren Parteigeno­ssen: „Kopf hoch“.
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FOTO: DPA Wahlziel erreicht, sagt CDU-Chefin Annegret KrampKarre­nbauer.

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