Triumphzug der Grünen
Die Ökopartei kann ihr Ergebnis in Europa verdoppeln und wird damit erstmals zweitstärkste Kraft im Bund. AfD bleibt im Osten stark
Bei Annalena Baerbock ist kein Halten mehr: Als am Abend die ersten Prognosen kommen, wirft sich die GrünenChefin ihrem Spitzenkandidaten Sven Giegold um den Hals, hüpft dann minutenlang mit ihm Arm in Arm in der ersten Reihe der zentralen Wahlparty in Berlin. Ein „saustarkes Ergebnis“sei das, ruft sie später ihren Parteifreunden zu. Und: „Das ist ein Auftrag.“Giegold feiert den Wahltag in Anspielung auf die Klima-Demos als „Sunday for Future“. Co-Parteichef Robert Habeck spricht bei der grünen Wahlparty in Bremen etwas atemlos von einem „unfassbaren Vertrauensvorschuss“. Die Grünen funktionieren gerade wie ein VW-Käfer: Es läuft und läuft und läuft. Bei der Europawahl können sie nach ersten Hochrechnungen ihr Ergebnis verdoppeln, bundesweit liegen sie damit erstmals bei einer Wahl vor der SPD, in Bremen gibt es nach Sonntagabend keine realistische Regierungskoalition ohne die Grünen, in Berlin und Hamburg sind sie laut ersten Hochrechnungen sogar stärkste Kraft.
Habeck ahnt es schon: Wenn er an diesem Montagmorgen zusammen mit Europa-Spitzenkandidat Giegold in Berlin vor die Hauptstadtpresse tritt, muss er sich wieder auf die inzwischen übliche Frage einstellen: Na? Keimt da nicht Lust aufs Kanzleramt? Und wie immer wird er sich zieren. Klar: Die Grünen genießen ihren Höhenflug – aber sie fürchten ihn auch. Sie haben Angst, ihn durch zu viel Hybris zu verspielen. Baerbock wiederholt es deswegen am Wahlabend gleich mehrfach: Die vielen Stimmen seien keine genuin grünen Stimmen, sondern Stimmen für Klimaschutz, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Für die AfD dagegen lief es diesmal nicht rund im Wahlkampf. Dubiose Spenden, Teile der Partei unter Beobachtung des Verfassungsschutzes und dazu eine Debatte, ob ein Dexit (ein Austritts Deutschland aus der EU) als Ultima Ratio ins Wahlprogramm gehöre. Und schließlich auch noch die Frage, ob sich die Wähler vom Skandal der FPÖ in Österreich abschrecken lassen würden, die AfD zu wählen. „Ich glaube, die Wähler können gut differenzieren“, gab sich AfD-Parteivize Georg Pazderski am Nachmittag gegenüber unserer Redaktion noch zuversichtlich. Ein Wahlergebnis wie bei der letzten Bundestagswahl sei „die Messlatte“, so Pazderski. Nach ersten Hochrechnungen landete die AfD bei der Europawahl dann aber unter den 12,6 Prozent der Bundestagswahl. In Brandenburg und Sachsen allerdings gelang der Partei ein Triumph: Nach ersten Prognosen holte die AfD hier die meisten Stimmen. Parteichef und Europa-Spitzenkandidat Jörg Meuthen räumte beim zentralen Wahlabend der AfD in einer Tanzschule am Berliner Stadtrand ein, er habe bundesweit „mit mehr gerechnet“. Die Dexit-Debatte habe geschadet. Immerhin habe die AfD ihr Ergebnis von 2014 deutlich verbessert. Die AfD werden nun sichtbarer in Brüssel.
Gemischte Gefühle auch bei der Linke: Während die Partei bei der Europawahl Federn lassen musste, ist in Bremen immerhin eine Regierungsbeteiligung in einem rot-grün-rotem Bündnis denkbar.
Die FDP dagegen hatte sich deutlich mehr erhofft: In Bremen ziehen die Liberalen wohl nur knapp wieder in die Bürgerschaft ein. Und bei der Europawahl? Da schnitt die FDP mit Spitzenkandidatin Nicola Beer nur wenig besser ab als 2014. Damals war die FDP gerade aus dem Bundestag geflogen und holte nur 3,4 Prozent.