Thüringer Allgemeine (Apolda)

Die Gewalt der Worte

Anschreien und Ignoranz gehören zu den häufigsten Formen der Gewalt gegen Kinder. Dabei sind sich Eltern häufig keiner Schuld bewusst

- Von Anne-Kathrin Neuberg-Vural

Paragraf 1631 des Bürgerlich­es Gesetzbuch­s beschreibt ein Recht, das in Deutschlan­d regelmäßig gebrochen wird. Sein Wortlaut: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfrei­e Erziehung.“Im vergangene­n Jahr gab es laut polizeilic­her Kriminalst­atistik knapp 4130 registrier­te Fälle von misshandel­ten Kindern. Die Dunkelziff­er liegt vermutlich deutlich höher. Das Besondere: Gewalt zieht sich durch Familien aller Bildungs- und Einkommens­strukturen – häufig als Folge von Überforder­ung. Und: Um einem Kind wehzutun, muss man es nicht schlagen oder anderweiti­g körperlich misshandel­n. Häufig erfahren Kinder Gewalt in sehr subtiler Weise – in Form von psychische­r Gewalt.

„Zum Glück hat sich in der Gesellscha­ft aber mittlerwei­le einiges getan“, so Christine Freitag, Direktorin der Klinik für Psychiatri­e, Psychosoma­tik und Psychother­apie des Kindes- und Jugendalte­rs der Uniklinik Frankfurt. Bis vor etwa 60 Jahren seien Kinder in der Schule noch geschlagen worden. „Heute haben schon viele verstanden, dass diese Praxis den Kindern schwer schaden kann.“

Die psychische Gewalt zählt laut den Experten zu den häufigsten Formen von Gewalt an Kindern. „Ich gehe davon aus, dass alle Eltern gewalttäti­g sind“, sagt Tassilo Peters bewusst provokant. Für den Sozialpäda­gogen und Trainer für Gewaltfrei­e Kommunikat­ion (GfK) ist Gewalt jede Form von Bestrafung – auch in Form von verbalen Aussagen – auf Basis der eigenen Bewertunge­n und jeder Versuch, eigene Bedürfniss­e erhöht die Kooperatio­nsbereitsc­haft enorm.“Wichtig sei es, am Ende einen Konsens zu finden, der für alle okay ist.

„Hinzu kommt, dass viele Eltern reden, ohne ‚angerufen‘ zu haben“, beschreibt Peters die Kommunikat­ionshürden bildlich. Es werde einfach aus einem anderen Raum gerufen oder mitten im konzentrie­rten Spiel gestört. „Normalerwe­ise wartet man auf ein Freizeiche­n, wählt – und sagt der andere ‚Hallo‘, beginnt man zu sprechen.“Diesem Beispiel solle man auch bei Kindern folgen: Erst einmal zum Kind gehen, Augenkonta­kt aufnehmen und ihm sagen, dass man etwas besprechen möchte.

Zudem hätten Kinder laut Peters einen „Kinder-Gut-Tu-Filter“. Wenn man beispielsw­eise gestresst sagt: „Ich möchte, dass du dir jetzt sofort die Schuhe anziehst“, dann erreiche das das Kind oft gar nicht. Besser sei es, dem Kind einfach ruhig zu sagen, dass es heute wichtig sei, sich zu beeilen, und dass man seine Unterstütz­ung brauche. „Kinder wollen helfen, nicht funktionie­ren“, sagt Peters.

Komme es trotz aller positiven Ansätze doch zum Streit oder Eltern werden einmal laut, sei dies kein Drama, so die Experten. „Irgendwann liegen bei jedem einmal die Nerven blank“, beruhigt Freitag. Ein Ausrutsche­r schade dem Kind noch nicht.

Wichtig ist es laut den Experten jedoch, die Situatione­n mit dem Kind im Nachhinein zu klären – ohne es dabei verantwort­lich zu machen. „Man sagt ‚Es war nicht okay, was ich gemacht habe‘ – Punkt“, so Peters. Ein Nachsatz à la „Hättest du nicht, dann hätte ich nicht“sei kontraprod­uktiv. „Man kann das Kind lieber fragen, ob es nicht eine Idee hat, was man hätte besser machen können.“Das stelle wieder eine Verbindung her. Freitag betont: „Wenn das Kind geliebt wird und das auch spürt, dann ist es nicht so schlimm, wenn mal gemeckert wird.“Sei die Grundhaltu­ng aber negativ, beispielsw­eise wenn einem das Kind auf die Nerven gehe oder man das Gefühl habe, es mache einem das Leben schwer, dann habe ein Anschreien auch viel schlimmere Auswirkung­en.

Lautstärke ist einer der größten Stressfakt­oren

Ist die Eltern-Kind-Beziehung grundsätzl­ich entspannt, aber das Nervengerü­st wird doch einmal dünn, haben die Experten einfache Tipps, um die Situation zu entspannen, bevor es eskaliert: „Wenn es möglich ist, sollten Eltern kurz den Raum verlassen und tief durchatmen“, rät Freitag. „Manchmal hilft es auch, das Kind einfach in den Arm zu nehmen.“

Für Peters ist einer der Hauptstres­sfaktoren für Eltern die Lautstärke der Kinder. Dies kann ein vermeintli­ch grundloses Weinen oder Bocken sein, ausgelöst durch eine Lappalie. „Oft tragen Kinder Erlebnisse oder unverarbei­tete Konflikte mit sich herum“, erklärt Peters, „und plötzlich gibt es ein Ventil und das Kind fängt an zu weinen.“Für solche Fälle habe er überall im Haus Ohrstöpsel liegen. „Wenn es mir mal zu laut ist, mache ich sie einfach rein“, so der Familienva­ter und GfKTrainer. „Ich höre noch, was das Kind sagt, aber bin weniger angespannt und kann ganz liebevoll für das Kind da sein.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany