Ein Land in guter Verfassung
... sollte darüber nachdenken, sich eine neue Verfassung zu geben
Zu „Der Rest sind wir“, 23. Mai:
Provisorium zu begreifen bis zu dem Tage, wenn das gesamte deutsche Volk in Freiheit sich eine „Verfassung“geben kann. Da ich meine Thüringer Heimat nicht vergessen konnte, war die Einheit mit einer Verfassung mein Traum und meine Sehnsucht.
Wie Herr Goldberg neige ich der Auffassung zu, ja mehr noch: ich bin der festen Überzeugung, dass diesem Land nichts ermangelt, indem es das alte Grundgesetz als seine Verfassung führt. Warum also vollziehen wir es nicht explizit? Herr Goldberg meint: Dagegen spräche das 1990 zu kurze Zeitfenster für Verfassungsdebatten. Ich kann das nicht erkennen, nachdem wir 41 Jahre auf diese Möglichkeit warten mussten. Zweitens schreibt Herr Goldberg von einer machtpolitischen Frage, dass die Protagonisten der Wende, die Bürgerrechtler nicht mitwirken konnten und sollten an dieser neuen Verfassung, denn sie waren zu uneins in ihren Vorstellungen, Zukunft zu schaffen.
Zum Können: Vergessen wir nicht, dass wir den Bürgerrechtlern ursächlich die Vereinigung zu verdanken haben. Wie sollte ich ausgerechnet ihnen zutrauen, keine Idee für die Zukunftsgestaltung zu entwickeln ? Auch wächst das Können am Willen, an der Aufgabe und schließlich im Amte. Das ist auch heute so, sonst dürften wir manchen Neuling in der Politik nicht zulassen.
Zum Sollen: Wer hatte und hat das Recht, den Protagonisten der Wende zu sagen, dass sie nicht mitwirken sollen bei einer Verfassungsgebung ?
Wenngleich eine neue Verfassung inhaltlich dem Vorbild des Grundgesetzes gleichen wird, so wäre ihre Erschaffung doch mehr als ein symbolischer Akt. Es wäre Zeichen und Bestätigung für die Bürger der sogenannten neuen Länder, tatsächlich aktiv dazu zu gehören und nicht nur passiv angeschlossen worden zu sein. Dies Unwohlsein, als Bürger zweiter Klasse angesehen zu sein, hindert noch immer, dass auch im tiefen inneren Bewusstsein unser Zusammenwachsen gestört ist.
Auch heute noch sollten wir uns eine Verfassung geben. Das gäbe Klarheit und stärkte unser Selbstbewusstsein.
Hermann Schrader, Gelmeroda