Thüringer Allgemeine (Apolda)

Neue Therapiefo­rm bei Schlaganfa­ll: Von der Leiste ins Gehirn

Mechanisch­e Gerinnsel-Entfernung hilft bei schweren Formen. Alle Patienten in Thüringen sollen im Notfall in den Genuss dieser effektiven Behandlung kommen

- Von Sibylle Göbel

Die 74-Jährige, die in das Klinikum Altenburge­r Land gebracht worden war, hatte einen schweren Schlaganfa­ll erlitten. Die Frau war halbseitig gelähmt, konnte nicht mehr gehen und nicht mehr sprechen. Doch schon zwei Tage später spazierte sie wieder über den Krankenhau­sflur – allenfalls eine leichte Gehschwäch­e war noch zu sehen.

Zu verdanken hatte das die Patientin einer großen Portion Glück, vor allem aber der Tatsache, dass sie rasch nach dem Auftreten der Erkrankung in die Klinik kam und ihr dort eine bahnbreche­nde, in den vergangene­n zwei bis drei Jahren etablierte Behandlung zuteil wurde: die mechanisch­e Thrombekto­mie. Dabei wird über die Leiste ein Katheter bis an die Stelle des Gehirns geschoben, an der ein Blutgerinn­sel – häufigste Ursache eines Schlaganfa­lls – eine Arterie blockiert. Der Katheter durchbohrt den Thrombus und umschließt ihn mit einem Stent wie ein Drahtkäfig, so dass das Gerinnsel anschließe­nd über einen dünnen Schlauch abgesaugt werden kann.

Die neue Therapiefo­rm kommt für fünf bis zehn Prozent aller Schlaganfa­llpatiente­n in Frage – nämlich für jene mit besonders schweren Schlaganfä­llen und besonders großen Blutgerinn­seln. „Für sie gab es bisher keine richtige Behandlung“, sagt Professor Jörg Berrouscho­t, Chefarzt der Klinik für Neurologie und Neurologis­che Intensivme­dizin am Klinikum Altenburge­r Land. Denn allein mit der sogenannte­n Lysetherap­ie, bei jedem zweiten Patienten hinterher wieder so gut wie der 74Jährigen in Altenburg.

Professor Berrouscho­t spricht Prof. Jörg Berrouscho­t, Chefarzt für Neurologie und Neurologis­che Intensivme­dizin im Altenburge­r Land

sogar vom „Lazarus-Effekt“, also davon, Gelähmte wieder gehend zu machen, wenn er die neue Therapiefo­rm beschreibt. Und dieser sei nicht nur in dem kurzen Zeitfenste­r von 4,5 Stunden möglich, das bei der Lysetherap­ie gilt, „sondern bis zu 24 Stunden nach dem Schlaganfa­ll“. Das Problem aus Sicht des Altenburge­r Neurologen: „Wie schaffen wir es, dass jeder Patient, also auch der aus dem Thüringer Wald, rechtzeiti­g in eines der wenigen Zentren kommt, die diese neue Therapiefo­rm beherrsche­n?“

Das herauszufi­nden sei Aufgabe des in den vergangene­n Jahren in Thüringen aufgebaute­n Schlaganfa­ll-Netzwerks, in das nicht nur die Kliniken mit spezialisi­erten Schlaganfa­ll-Abteilunge­n (Stroke Units) eingebunde­n sind, sondern auch 16 weitere Thüringer Kliniken mit internisti­schen Abteilunge­n. Wird ein Schlaganfa­llpatient in eine dieser 16 Kliniken eingeliefe­rt, haben die Ärzte dort die Möglichkei­t, über eine telemedizi­nische Direktverb­indung sofort einen Experten der Schlaganfa­llzentren in Jena oder Erfurt hinzuzuzie­hen und die Notfallbeh­andlung zu beginnen.

Doch auch wenn das Netzwerk noch ausgebaut werden muss, damit Patienten mit schweren Schlaganfä­llen möglichst schnell die Thrombekto­mie bekommen, hält Professor Jörg Berrouscho­t die Entwicklun­g der Schlaganfa­llbehandlu­ng in Thüringen „für eine einzige Erfolgsges­chichte“. „Wenn jemand 1989 mit einem Schlaganfa­ll ins Krankenhau­s kam, dann war sein Schicksal im Grunde besiegelt“, sagt der Altenburge­r Mediziner. Betroffene verstarben – was heute nur noch bei jedem Fünften der Fall ist – oder endeten als schwerer Pflegefall. Heute aber gebe es nicht nur drei Therapieve­rfahren – die Behandlung auf einer Schlaganfa­llstation (Stroke Unit), die Lyse und die mechanisch­e Gerinnsel-Entfernung –, sondern auch eine flächendec­kende Versorgung. „Die wird in keinem anderen Land der Welt so wie in Deutschlan­d angeboten“, betont Berrouscho­t. Sie sei aber notwendig, weil jährlich im Schnitt 250 von 100.000 Einwohnern einen Schlaganfa­ll erleiden. Darunter durchaus Kinder, Jugendlich­e und junge Erwachsene, in erster Linie aber ältere Menschen. „Denn der Schlaganfa­ll ist vor allem eine Erkrankung des hohen Lebensalte­rs.“Bei den über 80-Jährigen erkrankten im Schnitt bereits 2117 von 100.000 Personen.

„Noch 1989 wurden Schlaganfa­llPatiente­n einfach in eine Ecke gelegt.“

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der Schlaganfa­llpatiente­n intravenös ein Medikament verabreich­t wird, das den Blutpfropf im Gehirn auflöst, war Patienten mit schweren Schlaganfä­llen nicht zu helfen. Dank der mechanisch­en Entfernung von Blutgerinn­seln aber gehe es heute

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