„Müssen klarmachen, wofür die SPD steht“
Nach dem Wahldebakel empfiehlt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil seiner Partei, sich an den Grünen zu orientieren
Stephan Weil kommt aus einer Krisenrunde. Im Garten der niedersächsischen Landesvertretung in der Hauptstadt nimmt er Platz und ein Stück von der Schokolade, die ihm seine Sprecherin anbietet. Nervennahrung kann der SPD-Mann gut gebrauchen.
Bei der Europawahl hat sich die SPD fast halbiert, und in Bremen sind die Sozialdemokraten erstmals seit 1946 als stärkste Partei abgelöst worden. Welche Erklärung haben Sie für diese historische Niederlage?
Stephan Weil:
Es war wirklich ein schlimmer Abend, ein Tiefpunkt in unserer langen Parteigeschichte. Wir haben leider erneut erlebt, dass es die SPD im Wahlkampf versäumt hat, einige wenige überragend wichtige Themen herauszustellen. Wir haben in unserem Programm viele Antworten auf viele Fragen. Was fehlt, sind klare Schwerpunkte.
An welche denken Sie?
Zum Beispiel Arbeit und Umwelt. Der Wahlkampf ist sehr geprägt worden vom Thema Klimaschutz. Die SPD hat darauf einen speziellen Blick, und wir sind davon überzeugt, dass er der einzig richtige ist: Klimaschutz braucht Zustimmung und aktives Mitwirken in der Bevölkerung. Wir dürfen deswegennichtmitderPlanierraupe über die Interessen der Betroffenen hinweggehen, sonst erleben wir Proteste wie von den Gelbwesten in Frankreich. Diese Haltung lässt sich gut vermitteln, aber das haben wir kaum getan. In diesem Klimaschutz-Wahlkampf hat die SPD deswegen gar nicht wirklich stattgefunden.
Die Chance war da. Für Arbeit und Umwelt sind die SPD-Minister Hubertus Heil und Svenja Schulze zuständig.
Es geht in erster Linie um Wirtschaftsund Verkehrspolitik, und in diesen Ministerien passiert derzeit nichts. Die Industrie – Stahl, Chemie, Automobil – steht vor einem Umbau, der kaum zu überschätzen ist. Die Politik darf deswegen nicht nur Klimaziele setzen, sondern muss auch Konzepte zur Umsetzung haben. Das ist die Aufgabe, der sich die Union derzeit komplett verweigert.
SPD-Chefin Andrea Nahles, die in den eigenen Reihen massiv unter Druck geraten ist, will vorzeitig über ihren Posten an der Spitze der Bundestagsfraktion abstimmen lassen. Ist das der Mut der Verzweiflung?
Das ist eine persönliche Entscheidung, die ich nicht kommentieren muss.
Der gescheiterte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz will angeblich gegen Nahles antreten. Hat er Chancen?
Es werden derzeit viele Namen genannt. Der SPD nutzt das alles nicht.
Welche Autorität hat Nahles aktuell in der SPD?
Die SPD befindet sich in ausgesprochen schwierigen Zeiten. Meine Haltung ist immer gewesen, dass Führung gerade dann Unterstützung braucht. Aber jetzt wird es in der SPD-Bundestagsfraktion eine Entscheidung geben, und die wird Ihre Frage beantworten.
Am Ende ist immer der Trainer verantwortlich.
Als leidgeprüfter Fan von Hannover 96 kann ich Ihnen versichern, dass das mitnichten ein Erfolgsrezept sein muss.
Würde es der SPD guttun, die große Koalition zu beenden?
Die große Koalition findet in der Bevölkerung derzeit nicht viel Zustimmung. Das spiegelt sich in den Wahlergebnissen. Es ist für Herbst eine Halbzeitbilanz vereinbart – das ist im Interesse von SPD und Union. Klar ist jedenfalls: Eine zweite Halbzeit muss erfolgreicher sein als die erste.
Was sind die Voraussetzungen für eine Fortsetzung der großen Koalition?
Vor allem klare Entscheidungen, zum Beispiel zum Klimaschutz. Und ein deutlich besseres Erscheinungsbild, also gerne intern diskutieren, aber weniger in der Öffentlichkeit streiten. Davon sind viele Bürger genervt, und ich kann das verstehen.
Einige in Ihrer Partei wollen diese Koalitionsbilanz vorziehen.
Dieser Auffassung bin ich ausdrücklich nicht. Debatten über die große Koalition lenken – ebenso wie Personaldebatten – von unserer Schlüsselfrage ab: Wie muss sich die SPD aufstellen, damit sich ein Wahlabend wie am Sonntag nicht wiederholt? Dafür müssen wir sehr hart und sehr schnell arbeiten.
Die Landtagswahlen im Osten stehen vor der Tür.
Ja. Auch deswegen ist es höchste Zeit, dass die SPD klärt, was für sie die wichtigsten Themen sind. Ich habe keine überzeugende Erklärung dafür, warum das nicht längst geschehen ist. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern klarmachen, wofür die SPD steht. Es gibt dafür ein gutes Beispiel, und wir sollten uns nicht zu schade sein, uns daran zu orientieren: Die Grünen konzentrieren sich seit einem nicht gerade überwältigenden Ergebnis bei der letzten Bundestagswahl darauf, im Kern immer über dieselben Themen zu reden. Und diese Themen werden dann auch mit den Grünen in Verbindung gebracht.
Von den Grünen lernen heißt siegen lernen?
Was die Themensetzung und die Kommunikation angeht, schon. Aber im Übrigen muss die SPD jetzt auch einmal die Auseinandersetzung mit den Grünen führen. Welche Konzepte haben die Grünen, um Arbeit und Umwelt zusammenzubringen, oder sind ihnen Arbeitsplätze egal? Und wie soll die Klimawende finanziert werden, ohne dass die kleinen Einkommen bluten? Über diese Fragen brauchen wir einen produktiven Streit.
„Eine zweite Halbzeit der Koalition muss erfolgreicher sein als die erste.“
Juso-Chef Kevin Kühnert will lieber über Segnungen des Sozialismus debattieren.
Für einen Juso-Vorsitzenden ist das nicht überraschend, muss aber nicht mitten in einem Wahlkampf sein. Wenn solche Äußerungen ein solches Echo auslösen, zeigt das eher das Vakuum, das die SPD hat entstehen lassen. Da können wir uns eher an die eigene Nase fassen. Deswegen mein Mantra: Die SPD muss sich neu aufstellen.