Chaostage in der SPD
Bei den Sozialdemokraten wächst der Widerstand gegen Andrea Nahles. Aber bisher traut sich in der Fraktion niemand offen aus der Deckung
Nicht weniger als dreieinhalb Stunden brauchte Andrea Nahles, um im erweiterten Vorstand der Bundestagsfraktion überhaupt nur ihren Fahrplan durchzusetzen. Nach heftigen Diskussionen stimmten die führenden Abgeordneten mit 19:9 Stimmen dafür, dass Nahles am Dienstag die Vertrauensfrage stellen kann. Von einem Etappensieg zu sprechen, wäre vermessen. Nahles befindet sich in einer brandgefährlichen Lage. Ihre Wiederwahl stand erst im September an. Nach dem Absturz der SPD bei den Europawahlen und in Bremen war sie in die Offensive gegangen, um ihre Kritiker aus der Deckung zu locken. Die wurden von dem Coup kalt erwischt.
Seitdem tobt in der Partei ein Machtkampf, bei dem nicht abzusehen ist, ob Nahles ihn politisch überlebt. Am Mittwoch zogen sich die Lager zu internen Beratungen zurück. In der Sitzung der nordrhein-westfälischen Abgeordneten wurde von fassungslosen Rückmeldungen aus den Wahlkreisen an Rhein und Ruhr berichtet.
Nahles sei an der Parteibasis nicht mehr vermittelbar. Die SPD müsse jetzt die Reißleine ziehen. Auch bei den SPD-Leuten aus Niedersachsen hat Nahles so gut wie keinen Rückhalt mehr. Der Absturz bei der Europawahl auf das Allzeittief von 15,8 Prozent und Platz drei hinter den Grünen, dem schlechtesten Abschneiden der ältesten deutschen Partei bei einer nationalen Wahl seit 1887, sowie die zahlreichen ungelenken öffentlichen Auftritte der eigenen Vorsitzenden lassen viele Mitglieder verzweifeln. Aber würde ein Sturz der 48-Jährigen die SPD vitalisieren, die in der großen Koalition an Schwindsucht leidet? Jeder und jede, die ihr nachfolgten, liefe Gefahr, bei Wahlniederlagen im Herbst in Brandenburg, Sachsen und Thüringen als Hoffnungsträger sofort verbrannt zu sein. Stunde um Stunde wurde beraten. Zeitweise stand im Raum, Nahles komplett auflaufen und im September regulär über den Fraktionsvorstand abstimmen zu lassen. Das wäre eine Demontage gewesen. Eine Vorsitzende, die noch
nicht einmal mehr die Kraft hat, sich bei Regularien durchzusetzen? So weit kam es nicht.
In der Zwischenzeit erhielten alle SPD-Abgeordneten eine Mail von Martin Schulz. Seit Wochen wurde spekuliert, der Ex-Kanzlerkandidat und frühere Parteivorsitzende säge an Nahles’ Stuhl. „Ich werde nicht für den Fraktionsvorsitz kandidieren“, schrieb Schulz. Vor zwei Wochen hatte Nahles ihn zur Rede gestellt und unter vier Augen gefragt, ob er einen Putsch gegen sie anführe. Anschließend war genau das berichtet worden, was „ihn in ein schlechtes Licht“gerückt habe: „Über den Inhalt dieses Gesprächs hatten wir Stillschweigen vereinbart. Ich habe mich stets daran gehalten“, beklagte sich Schulz. In der FraktionsSondersitzung ergänzte er, er sei mit Sigmar Gabriel verglichen worden, der Nahles öffentlich einen Rücktritt nahegelegt hatte. „Das belastet mein Seelenheil.“Der frühere Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann forderte eine faire Beurteilung von Nahles. „Ich halte es für keine schlaue Idee, in dieser Situation die Führung auszuwechseln“, sagte der Bundestagsvizepräsident nach Angaben von Teilnehmern. Auch Außenminister Heiko Maas, Noch-Justizministerin Katarina Barley, Umweltstaatssekretär Florian Pronold und Martin Burkert, Chef der bayerischen SPD-Abgeordneten, sprachen sich für Nahles aus. Ein Gegenkandidat kam bislang nicht aus der Deckung. „Ich finde das feige“, sagte Fraktionsvize Karl Lauterbach. Und weiter: „Andrea Nahles ist nicht schuld an den Niederlagen.“
Kommt es doch noch zur Solidarisierungswelle?
Der Anführer der Parteilinken, Matthias Miersch, sagte in einer internen Runde, er werde nicht gegen Nahles antreten. Nicht ausgeschlossen scheint, dass sie selbst ohne Gegenkandidat keine oder eine nur sehr schwache Mehrheit erhält. Oder es setzt doch noch eine Solidarisierungswelle ein, um den Schaden zu begrenzen. „Mehrheit ist Mehrheit“, hieß es aus ihrem Umfeld. Gerüchte, Nahles könnte versuchen, sich auf einen Ministerposten zu retten, wurden in Parteikreisen zurückgewiesen. Das wäre Postengeschacher wie in der Maaßen-Affäre. Florian Post, ein kaltgestellter Abgeordneter, riet Nahles, zu gehen: „Nur weil es Andreas Kindheitstraum war, Führungspositionen in der SPD zu besetzen, darf sie jetzt nicht die ganze Partei in Geiselhaft nehmen.“Viele Genossen dürften entsetzt darüber sein, welches Bild die taumelnde Volkspartei gerade abgibt. „Wenn wir nicht damit aufhören, stehen wir bald bei zehn Prozent“, meinte ein Abgeordneter.