Das System Nahles vor dem Kollaps
Die SPD-Chefin sicherte ihre Macht mit einem Netzwerk aus Juso-Zeiten ab – einige sehen genau darin einen Grund für ihren möglichen Sturz
In diesen nervenzerfetzenden Tagen hört man in der SPD eine Einschätzung immer wieder: „Andrea Nahles hat die Partei in eine Sackgasse manövriert.“Nach ihrer tollkühnen Entscheidung, den Absturz bei der Europawahl und das Debakel in Bremen für einen Showdown in der Bundestagsfraktion zu nutzen, befindet sich die verzweifelte Volkspartei in einer Lage, die Amerikaner „lose-lose“nennen.
Es kann keine Gewinner mehr geben. Egal, wie das Kräftemessen am Dienstag in der Fraktion ausgeht. Alle sind beschädigt. Ihre Gegner, die sich nicht aus den Büschen trauen. Eine Vorsitzende, die, so scheint es, um jeden Preis ihre Macht sichern will, selbst wenn dafür die Partei auf der Strecke bleibt, wie Kritiker sagen. Wie konnte es nur so weit kommen?
„Das ist alte Juso-Schule. Es geht immer nur um 50 plus eins.“
Ein SPD-Abgeordneter über Andrea Nahles und ihre Strategie für die Abstimmung um den Fraktionsvorsitz
Ein Zeitsprung zurück in den Sommer 2000. An einer Wellblechhütte auf einer Wiese in Südschweden lehnt lachend eine junge Andrea Nahles. Sie fuhr mit einer Juso-Gruppe zu einem Camp der internationalen Jungsozialisten nach Malmö. Auf dem Foto ist Niels Annen zu sehen, heute Staatsminister im Auswärtigen Amt. Mit dabei war auch Wolfgang Schmidt, der jetzt als Staatssekretär im Finanzministerium ein Schlüsselmann der SPD in der großen Koalition ist. Wer verstehen will, wie es die Maurerstochter aus der Eifel bis an die Spitze schaffte und sich jetzt womöglich endgültig ins Abseits gespielt hat, muss ihr Umfeld beleuchten.
Nahles ist eine Netzwerkerin. Überall sitzen Vertraute. Benjamin Mikfeld ist Abteilungsleiter im Vizekanzleramt von Olaf Scholz. Annen erfährt von Außenminister Heiko Maas aus erster Hand, was in der Welt abgeht. Björn Böhning ist Staatssekretär im Arbeitsministerium, Nahles’ früherer Wirkungsstätte. Alle drei waren nach ihr Vorsitzende der Jusos, der SPDNachwuchsorganisation.
Zum innersten Kreis des Machtsystems Nahles zählen auch Torben Albrecht, Bundesgeschäftsführer im WillyBrandt-Haus, ihr Büroleiter Sebastian Jobelius, Oberstratege Hannes Schwarz und Pressesprecherin Lena Daldrup. Diese Männer und eine Frau sind für die „Chefin“Augen und Ohren in einer SPD, die nicht zu Unrecht oft als „Schlangengrube“beschrieben wird. Intern lästern Gegner über den „Stalin-Club“, die „Nahles-Kamarilla“, die Abweichler teils rabiat auf Linie bringe. Ein Abgeordneter, der Nahles seit Jungsozialisten-Tagen kennt, erzählt, ihre Allesoder-nichts-Haltung überrasche ihn nicht. „Das ist alte JusoSchule. Es geht immer nur um 50 plus eins. Wie kann ich machtpolitisch eine Mehrheit organisieren.“Bekommt Nahles am Dienstag ohne Gegenkandidat weniger als 50 Prozent, ist sie weg. Auch als Parteivorsitzende. „Das wäre es für sie mit der Politik. Aus“, sagt jemand, der sehr nah dran ist. Das Nahles-Umfeld treibt so den Preis für einen Putsch hoch.
Nahles und ihre Boygroup könnten die Stimmung falsch eingeschätzt haben. Nicht zum ersten Mal hätte ihr Frühwarnsystem versagt. Nach dem Rücktritt von Martin Schulz im Februar 2018 wollte Nahles sofort Parteichefin werden. Nix da, sagte der Vorstand. Statt beim Parteitag im April 2018 die harmlose Gegenkandidatin Simone Lange einzubinden, attackierte Nahles sie. Ergebnis: 66 Prozent. Im Herbst 2018 unterschätzte das Team Nahles in der Maaßen-Affäre den Tsunami an der Parteibasis komplett. Sie blieb auch deshalb an der Spitze, weil niemand in der SPD den Schleudersitz haben will.
Die Partei ist auf das Szenario, dass Nahles jetzt stürzt, nicht vorbereitet. Es gibt bislang keinen Plan B. Wird Olaf Scholz wieder kommissarischer Parteichef? Moderiert Malu Dreyer den Übergang? Oder gibt es eine Doppelspitze aus Stephan Weil und Manuela Schwesig? Und wenn Nahles mit einem schwachen Ergebnis gewinnt? Die SPD wird nicht zur Ruhe kommen. Viele wollen nach dem Europa-Beben und dem Theater um Nahles nur noch raus. Raus aus der Koalition. Koste es, was es wolle.