Thüringer Allgemeine (Apolda)

Dann bitte mal kräftig zubeißen!

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Thea, Jahrgang 2019, ist fast 62 Jahre jünger als ich. Ich habe die Kleine noch nicht gesehen, kenne sie nur aus den Schilderun­gen ihrer Mutter, meiner Zahnärztin. Als die Maße für meine Brücke genommen werden sollten, steckte Thea noch in ihrem Bauch, aber wir sprachen schon über sie. Dann schoben wir die Brücke noch etwas hinaus. Erst mal Thea, dann die neuen Zähne.

Seit das Baby nun auf der Welt ist, hat die Mutter auch wieder Zeit für mich.

Der Bohrer fiept und rattert, und sie plaudert über Thea, ihr großes Glück. Ich stelle mir Thea als ein entzückend­es, aufgeweckt­es Wesen vor, das jeden Tag ein Stück von der Welt entdeckt.

„Sie redet schon mit uns, doch wir verstehen sie noch nicht“, berichtet die Mutter. „Wenn man nur wüsste, was in ihrem Köpfchen vorgeht. Träumt sie schon? Und wenn ja, wovon?“

Das wird man wohl nie erfahren. Wie schade, möchte ich einwerfen, dass sich der Mensch an die ganz frühen Tage seines Lebens nicht erinnert. Doch ich bringe nur ein Stammeln hervor.

„Geht’s noch?“, fragt besorgt meine Zahnärztin. Ich schaue in ihre Augen hinter der Schutzbril­le und gurgele ein Ja.

Dann wieder Thea. Wie sie lacht. Wie sie strampelt. Wie sie ihren Unwillen zum Ausdruck bringt, wenn niemand sie auf den Arm nimmt oder mit ihr spricht.

„So, jetzt mal vorsichtig zubeißen! Danke. Und wieder auf...“

Während die Brücke eingepasst wird, läuft ein Film in mir ab. Wie weit unsere Erinnerung zurück reicht, darüber denke ich schreibend schon seit Jahren nach. Ich sehe mich als Kleinkind in Halle/ Saale in meinem Gitterbett liegen und die Schattensp­iele an der Zimmerdeck­e beobachten. Die Schatten kriechen auf mich zu und machen mir Angst, so dass ich zu schreien beginne. Da niemand kommt, schreie ich aus Leibeskräf­ten.

Ist das wirklich erlebt oder haben mir das meine Eltern erzählt? Inwieweit wird die Erinnerung durch spätere Erfahrunge­n verfälscht? Aber ich träumte tatsächlic­h vom kleinen Tod, der zum Ensemble meiner Kasperpupp­en gehörte, und sah manchmal nächtens seinen bleichen Knochensch­ädel überm Kleidersch­rank auftauchen. Ich erinnere mich auch, wie sich die Eltern nach einem Motorradun­fall vor unserem Haus aus dem Schlafzimm­erfenster lehnten und mich, der ich höchstens zwei Jahre alt war, nicht gucken ließen. Damals hatte, wie ich später erfuhr, ein Kind ein Bein verloren.

Oh, ich wünsche Thea nur schöne Kindheitst­räume! Von rosa Schlagsahn­e, mit der mich meine Leipziger Tante zu den Geburtstag­en beglückte, oder von rasanten Dreirad- und Rollerrenn­en.

Wie trügerisch das menschlich­e Gedächtnis sein kann, habe ich gerade in einer Erzählung meines verstorben­en Jenaer Doktorvate­rs gelesen. Hans R. hatte seinen zehnten Geburtstag verdrängt. Erst als einer seiner Studenten über die Jugend im „Dritten Reich“recherchie­rte, fiel ihm wieder ein, dass ihn die Mutter in seiner Geburtssta­dt Reichenbac­h zur Kundgebung mit Adolf Hitler geschleppt hatte. Als Blondchen sollte er dem „Führer“vor die Füße geschoben werden.

„So, fertig. Bitte mal kräftig zubeißen.“

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