Unrecht, Amt und Ministerium
Ein Gärtner kann Thüringer Rechtsgeschichte schreiben. Landwirtschaftsamt droht die erste Amtshaftungsklage seit der Wende. Der Schaden liegt bei etwa 80.000 Euro
Kann es sein, dass eine Behörde in Thüringen einen Fehler macht, den Irrtum bald erkennt und trotzdem den Fehler nicht korrigiert – einfach nur deshalb, weil man überzeugt ist, dass der Bürger keine Chance hat, sich erfolgreich juristisch zu wehren?
Kann es sein, dass ein Ministerium, in diesem Fall das Agrarministerium von Birgit Keller (Linke), ein solches Agieren der unterstellten Behörde jahrelang rechtfertigt und deckt – obwohl der Fehler den Bürger etwa 80.000 Euro kostet?
Es ist der 27. Mai 2014. An diesem Freitag vor fünf Jahren trifft die Sachbearbeiterin im Landwirtschaftsamt Sömmerda eine Entscheidung über das Flurstück 22/4 in der Gemarkung Hopfgarten (Weimarer Land). Es ist ein Routinevorgang für die Frau, die übergangsweise bei einer Bank tätig war und als akribisch gilt.
In dem ihr vorliegenden Notarvertrag ist von einer „Landwirtschaftsfläche“die Rede, auf der sich „insgesamt 10 Garagen befinden“. Aufgabe der Sachbearbeiterin ist es zu prüfen, ob die landwirtschaftliche Nutzfläche ausnahmsweise an einen Nichtlandwirt verkauft werden darf, in diesem Fall an einen Handwerker aus Hopfgarten. Das Grundstückverkehrsgesetz will solche Verkäufe grundsätzlich unterbinden und damit die Spekulation mit Landwirtschaftsflächen, die immer knapper werden, verhindern.
Zur Überprüfung druckt die Sachbearbeiterin aus dem Geoproxy-Datensystem des Landes ein Luftbild aus, schwarz-weiß, Maßstab 1:903. Eine Kopie des Ausdrucks vom 27. Mai 2014 liegt unserer Zeitung vor. Man sieht die Gewächshäuser der Gärtnerei Hoffmann, man sieht Freiflächen, die an Beete erinnern, man sieht etwas, das man für Garagendächer halten kann, sofern man weiß, dass auf dem Gelände zehn Garagen in zwei Reihen stehen.
Die Sachbearbeiterin markiert mit einem Filzstift die Grenzen des Flurstücks 22/4. Auch diese Markierung datiert vom 27. Mai 2014. Am Ende ihrer Prüfung gelangt sie, wie das Agrarministerium mitteilt, „zu dem Ergebnis, dass auf dem Grundstück eine landwirtschaftliche oder gärtnerische Nutzung nicht stattfindet“.
Das ist ein Irrtum. Tatsache ist: Das Kaufgrundstück ist 3465 Quadratmeter groß, das Teilstück mit den Garagen misst etwa 900 Quadratmeter. Circa 2560 Quadratmeter des Kaufgrundstücks unterliegen nach Angaben des Finanzamts Jena der „landwirtschaftlichen Nutzerbesteuerung“. Diese 2560 Quadratmeter werden also von Gärtner Dietmar Hoffmann agrarisch genutzt. Das Landwirtschaftsamt und das Ministerium behaupten hingegen, lediglich 2024 der 3465 Quadratmeter seien von Hoffmann agrarisch genutzt. Der Verkauf von Flächen unter 2500 Quadratmetern müsste vom Landwirtschaftsamt nicht genehmigt werden.
Es dauert sechs Wochen, bis man im Landwirtschaftsamt Sömmerda den Fehler bemerkt. Hoffmann hat von Nachbarn erfahren, dass das Grundstück, das einer Verwandten aus Westdeutschland gehört und das er seit 23 Jahren landwirtschaftlich nutzt, verkauft werden soll.
Am Freitag, 11. Juli 2014, fährt er nach Sömmerda und erläutert der zuständigen Sachbearbeiterin die Lage. Als sie Hoffmann zusagt, die Sache zu prüfen, ist ihr nicht klar, dass sie den Fall am 27. Mai bereits entschieden hat. Dann erinnert sie sich. Sie ruft Hoffmann an, der zurück zu Hause ist, und teilt ihm mit: Das Amt hat den Verkauf an einen Nichtlandwirt bereits genehmigt.
Am Dienstag, 15. Juli 2014, legt Hoffmann schriftlich Widerspruch ein, der einen Tag später im Landwirtschaftsamt Sömmerda eingeht.
Die Diskussionen im Amt laufen jetzt auf Hochtouren. Amtsleiter Manfred Pilch ist beteiligt, Justiziarin Angela Barry, die Abteilungsleiter sowie die Sachbearbeiterin. Man ist uneins, wie weiter zu verfahren sei.
Eine Mitarbeiterin des Amtes fährt nach Hopfgarten, um das Grundstück zu fotografieren. Als die Bilder im Amt auf dem Tisch liegen, stecken alle die Köpfe zusammen, wie man sich erinnert. Die Fotos belegen: Es handelt sich um eine große Landwirtschaftsfläche. Die zehn Garagen stehen auf einem etwas abgesetzten Teil davon, sozusagen auf einem angrenzenden Winkelgrundstück.
Damit steht fest: Das Landwirtschaftsamt Sömmerda hat – obwohl das Grundstücksverkehrsgesetz genau solche Spekulationen mit Agrarland verhindern soll – dem Verkauf einer mehr als 2500 Quadratmeter großen Landwirtschaftsfläche an einen Handwerker zugestimmt. Es ist eine Fläche, die Gärtner Hoffmann seit 23 Jahren nutzt und die circa 40 Prozent seiner Gesamtbetriebsfläche ausmachen.
Hoffmann befürchtet deshalb seinen wirtschaftlichen Ruin. Er tut diese Sorge auch kund.
Im Landwirtschaftsamt Sömmerda wird weiter überlegt, wie mit dem Fehler umzugehen sei. Eine Möglichkeit: Man könnte den Fehler zugeben und die Grundbucheintragung des Handwerkers als neuen Eigentümer stoppen. Dagegen spricht: Bei einer sogenannten Rückabwicklung des Kaufs könnte der Handwerker, der das Grundstück regulär und mit Genehmigung des Landwirtschaftsamts erworben hat, auf Schadenersatz klagen.
Die Alternative: Man zieht die Sache durch, trotz des Fehlers. Für diese Lösung entscheidet man sich mehrheitlich im Amt.
Die Sachbearbeiterin will sich, wie sie geäußert hat, keinen Fehler nachsagen lassen. Sie ruft deshalb, wie die Recherchen ergeben haben, auf dem kurzen Dienstweg die Referatsleiterin für Recht und Bodenrecht im Agrarministerium in Erfurt an.
Die Diplomjuristin, die sich den Ruf einer Expertin auf diesem Gebiet erworben hat, beruhigt die Amtskollegen in Sömmerda: Gärtner Hoffmann sei weder Verkäufer noch Käufer des Grundstücks. Also sei er nicht „klagebefugt“. Das bedeutet: Hoffmann hat keine Chance, sich erfolgreich mit juristischen Mitteln gegen den Fehler zu wehren. „Das war eine Entscheidung nach dem Motto: Uns
kann nichts passieren.“Personen, die den Fall sehr gut kennen, sagen: „Der Grund für die Ablehnung war, dass keine negativen rechtlichen Folgewirkungen zu befürchten waren.“
Damit steht die Linie fest: Das Amt gesteht den Fehler nicht ein. Soll Hoffmann doch klagen!
Etwa drei Monate nach dem richtungsweisenden Telefonat mit der Referatsleiterin des Agrarministeriums teilt die Juristin des Landwirtschaftsamts Sömmerda, Angela Barry, Gärtner Hoffmann am 10. Oktober 2014 schriftlich mit: „Nach reiflicher Prüfung und umfassender rechtlicher Bewertung“sehe man „keine Veranlassung“, die Entscheidung „infrage zu stellen“.
„Wissen Sie, was der Leiter des Landwirtschaftsamts gesagt hat, als ich ihn bat, die Sache rückgängig zu machen?“, fragt Hoffmann: „Klagen Sie doch!“
Hoffmann, der auf Gerechtigkeit hofft, zieht tatsächlich vor Gericht, von einer Instanz, in der er unterliegt, zur nächsten, in der er verliert. Überall wird seine Klage nicht inhaltlich, sondern mit dem formalen Argument zurückgewiesen, er sei nicht klagebefugt. „Ich bin im Recht“, sagt Hoffmann, „aber ich kann mein Recht nicht bekommen.“
Zuletzt befindet das Oberlandesgericht, das Hoffmanns Klage ebenfalls zurückweist: Es könne sein, „dass im Einzelfall ungerechtfertigt Negativatteste oder Genehmigungen erteilt werden, die zur Beeinträchtigung der Belange der Agrarstruktur führen“. Das sei, findet Hoffmann, der an Gerechtigkeit glaubt, ein indirekter Hinweis darauf, dass das Gericht ihm inhaltlich Recht gebe, auch wenn er nicht klagebefugt sei.
Dass Hoffmann recht hat, steht außer Zweifel. Amtsleiter Manfred Pilch aus Sömmerda schrieb am 25. Oktober 2015 an das Landwirtschaftsgericht in Erfurt: Auf dem Luftbild „waren Gebäude erkennbar, welche durch Nichtkenntnis einer anderen Nutzung (…) als Nichtlandwirtschaftsflächen gedeutet wurden“. So umschreibt Pilch die Tatsache, dass die Fachfrau seines Landwirtschaftsamts die auf dem Luftbild sichtbaren Gewächshäuser für Garagendächer hielt. Aber Pilchs Eingeständnis half Hoffmann nicht: Nicht klagebefugt.
Das Agrarministerium bestreitet den Irrtum ebenfalls nicht. Es sieht jedoch keinen Grund, den Fehler zu korrigieren, und zwar aus folgendem Grund: Zu ihrer falschen Einschätzung sei „die im Sachgebiet ,Agrarstruktur‘ tätige Bedienstete in nicht zu beanstandender Weise“gekommen. Das bedeutet: Die Mitarbeiterin hat die Regeln der Prüfung nicht verletzt. Nur das Ergebnis war nicht korrekt. Hoffmann konnte sich nicht wehren: Nicht klagebefugt.
Unmissverständlich hat bisher allein die ehemalige Vorsitzende des Petitionsausschusses des Bundestags, Kerstin Steinke aus Bad Frankenhausen, die Leistung des Landwirtschaftsamtes kritisiert. „Es handelt sich eindeutig um einen Behördenfehler“, teilte die Linken-Politikerin im Oktober 2017 mit. „Das Grundstücksverkehrsgesetz zum Schutz von landwirtschaftlichen Flächen wird somit ad absurdum geführt.“
Ein ähnlich klares Abschlussvotum des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestags hätte Hoffmann tatsächlich helfen können. Sein Fall war in Berlin auf gutem Weg: Er wurde sogar
bei einem der raren Berichterstattergespräche erörtert. Im Jahr 2017 gab es bei circa 15.000 Petitionen 20 solcher Gespräche, eines über Hoffmann.
Doch nach der Bundestagswahl im Herbst 2017 formierte sich der Ausschuss neu. Der Vorsitz wechselte von Kerstin Steinke zu dem sächsischen CDU-Abgeordneten Marian Wendt. Letztlich setzte sich nicht die Auffassung der Thüringer Linken-Politikerin Steinke durch, sondern die eines Berichterstatters von der CDU. Der vertrat im Fall Hoffmann, wie man hört, die Position: „So etwas kommt häufiger vor. Dagegen kann man nichts machen.“
Von einem Behördenfehler des Landwirtschaftsamts Sömmerda war im Schlussvotum des neuen Petitionsausschusses schließlich keine Rede mehr. „Das war auch nicht zu erwarten“, sagt eine Person, die sich mit den Hintergründen solcher Entscheidungsprozesse auskennt. „Die Beschlussempfehlung wird von der Mehrheit beschlossen. Da wird man keine Äußerungen der Opposition finden. So einfach ist das.“
So kam es, dass im zweiten Halbjahr 2018, nach zweieinhalbjähriger Beratungszeit, der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags befand: Gärtner Hoffmann sei nicht klagebefugt. Die Ämter, das Thüringer Agrarressort und sämtliche Gerichte hätten dies bereits zutreffend festgestellt. Auch wenn man Herrn Hoffmann gewiss irgendwie ganz gern geholfen hätte, man sehe „keine Möglichkeit, die Rechtslage durch anderweitige Regelungen auf Bundesebene zu ändern“.
Dann folgt zum Abschluss des
Ausschussvotums eine Passage, die regt Dietmar Hoffmann, den Petenten, richtig auf.
Der Petitionsausschuss schreibt: „Das Landwirtschaftsamt (Sömmerda) hat jedoch am 25. Oktober 2017 mitgeteilt, dass beim zuständigen Amtsgericht eine Einigung dahingehend erzielt wurde, dass der Petent die 2024 Quadratmeter, die er bewirtschaftet hat, kaufen wird und dass das Gericht beim Finden einer angemessenen Kaufsumme und einer Nutzungsentschädigung für die rückwirkende dreijährige Nutzung geholfen habe.“
Darüber, dass das Landwirtschaftsamt eine um 20 Prozent zu geringe Quadratmeterzahl verbreitet, was ihm schadet, könnte Dietmar Hoffmann auch viel erzählen. Doch jetzt sagt Hoffmann nur: „Die Hilfe des Richters bestand darin, dass er fragte: Akzeptieren Sie das Angebot oder nicht? Das war die Methode Friss-oder-stirb.“
Das Verkaufsangebot des Handwerkers, der im April 2014 pro Quadratmeter 5,77 Euro für das Flurstück 22/4 bezahlt hatte, lag drei Jahre später im Gerichtssaal bei 35 Euro pro Quadratmeter. „Das ist eine Steigerung um 600 Prozent.“Die realistischen Kaufpreise für Ackerland in der Gemarkung Hopfgarten liegen sogar weit unter fünf Euro. Bei einer Kaufpreisermittlung im Jahr 2015 empfahl das Landwirtschaftsamt Sömmerda, „sich bei einem Preis um 0,75 Euro/Quadratmeter zu orientieren“.
Gärtner Hoffmann bezahlte dennoch – bei richterlichem Beistand – 70.000 Euro für etwa 2000 Quadratmeter. „Was sollte ich sonst machen, wenn ich den Betrieb für die Zukunft sichern will? Die Konkurrenz ist hart.“Das etwa 900 Quadratmeter große Teilstück mit den Garagen kaufte Hoffmann nicht. Es verblieb bei dem Handwerker, der im Jahr 2014 für die gesamte Fläche von 3465 Quadratmetern etwa 20.000 Euro bezahlt hatte.
Das vorerst vorletzte Kapitel: Gärtner Hoffmann schlägt dem Agrarministerium am 26. November 2018 schriftlich eine Kompromisslösung vor. Der Freistaat möge bitte knapp die Hälfte des Schadens begleichen, der ihm infolge des „rechtswidrigen Verwaltungsaktes“des Landwirtschaftsamts Sömmerda widerfahren sei. Hoffmanns Gesamtausgaben summieren sich auf etwa 90.000 Euro. Dem Land schlägt er vor, von diesem Schaden 40.000 Euro zu übernehmen. Die hohen Anwaltskosten listet Hoffmann in seiner Kalkulation nicht auf.
Knapp drei Monate später erhält der Gärtner Post aus Erfurt. Das Ministerium antwortet. „Sehr geehrter Herr Hoffmann, die Frau Ministerin hat mich beauftragt, Ihr Anliegen zu prüfen und Ihnen zu antworten“, schreibt in Vertretung ein Ministerialer.
Der Tenor des Schreibens vom 7. Februar 2019, das Ministerin Birgit Keller persönlich gebilligt hat, wie das Ministerium auf Nachfrage mitteilt, klingt irgendwie bekannt: Hoffmann ist nicht klagebefugt. „Insoweit sind Ihre Forderungen als unzulässig zurückzuweisen. Mit freundlichen Grüßen…“
Dazu wird dem Gärtner noch eine Belehrung mitgegeben: „So wie das Oberlandesgericht im Beschluss feststellt, haben Sie das Grundstück auf unklarer Rechtsgrundlage genutzt und das über einen Zeitraum von 20 Jahren. Daher war die behördliche Entscheidung korrekt, die auf der Grundlage des zur Genehmigung vorgelegten Vertrages erfolgt ist.“
„Die Rechtslage war völlig klar“, weist Hoffmann die Behauptung zurück. „Ich durfte das Grundstück meiner Verwandten landwirtschaftlich nutzen. Ich habe dafür auch Steuern gezahlt. Es stimmt, es gab keinen Pachtvertrag. Die Rechtslage war trotzdem klar.“
Das vorerst letzte Kapitel: Ein in juristischen Angelegenheiten, besonders solchen wie dieser, sehr erfahrener Mitarbeiter der obersten Verwaltungsebene, der nicht genannt werden möchte, sagt: „Ich bin der Meinung, dass das Landwirtschaftsamt Sömmerda einen objektiv rechtswidrigen Bescheid erlassen hat. Das Amt hätte den Sachverhalt nach pflichtgemäßem Ermessen überprüfen und den Fehler, sofern einer festgestellt worden wäre, korrigieren müssen.“
Gärtner Hoffmann fühlt sich entsprechend bestärkt, weiter um sein Recht zu kämpfen – jetzt auf einer Ebene, die in Thüringen Rechtsgeschichte schriebe. Trotz aller Niederlagen vor Gericht erwägt Hoffmann, den Freistaat wegen Amtspflichtverletzung eines Landwirtschaftsamts zu verklagen. So etwas gab es nach der Wende in Thüringen noch nie.
„Ich habe schon viel Geld verloren, und ich weiß auch nicht, ob ich eine Chance habe“, sagt Dietmar Hoffmann. „Aber es geht doch auch ums Prinzip. Das Landwirtschaftsamt Sömmerda hat eindeutig einen Fehler gemacht, und das Amt und das Ministerium reden sich raus. Ich will mir solches Unrecht eigentlich nicht gefallen lassen.“