Brüssel beunruhigt die Krise
Deutschland war bisher stabiler Anker
Sie sind vieles gewöhnt in Brüssel beim Blick auf die 28 Hauptstädte der Europäischen Union. In Österreich ist gerade die Regierung zerbrochen, Belgien steht vor monatelangen Koalitionsverhandlungen, die britische Premierministerin wirft hin, Spanien steuert nach der Wahl auf eine instabile Minderheitsregierung zu. Damit verglichen sind die politischen Verhältnisse in Deutschland noch recht stabil.
„Eine Krise in Berlin, das hat uns gerade noch gefehlt“, stöhnt ein hoher Beamter der Kommission. „Einen ungünstigeren Augenblick hätte sich Berlin kaum aussuchen können“, erklärt ein EU-Diplomat. Gesprochen wird darüber nur unter Zusicherung der Anonymität, ein offizieller Kommentar wäre ein Verstoß gegen die Brüsseler Usancen. Deshalb versagten sich die Spitzen von Kommission und Rat am Montag auch jede öffentliche Bewertung der Lage. Aber die Irritation ist erheblich: Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da in der EU wichtige personelle und inhaltliche Weichenstellungen auf der Tagesordnung stehen, muss die Kanzlerin um die Stabilität, um die Fortsetzung ihrer Regierung bangen. In diesen Tagen wird hinter den Kulissen verhandelt, wer neuer EUKommissionspräsident werden soll – in gut zwei Wochen soll bei einem Gipfel die Vorentscheidung fallen.
Die Berliner Krise kommt für die EU nicht ganz überraschend. Die Krisenanfälligkeit der Bundesregierung durch die Dauerschwäche der SPD, der es ja nicht anders geht als den Sozialdemokraten in vielen anderen Ländern Europas, und durch Merkels Rückzug von der CDUSpitze ist weithin gegenwärtig. Die neuen Erschütterungen in Berlin bestätigen das Bild, dass Deutschland langsam, aber sicher seinen Status als Insel der Stabilität in einem unruhigen Europa einbüßt.
Die Erwartungen, dass Merkels mögliche Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) das Ruder rasch wieder herumreißen könnte, sind in Brüssel nicht groß. Ihre ersten europapolitischen Gehversuche als CDU-Chefin endeten in einem Affront gegenüber Frankreich. Doch überraschend startet Kramp-Karrenbauer ein Versöhnungsmanöver: Am Montag flog sie nach Paris zu einem abendlichen Treffen mit Macron im Élysée-Palast.