„Zum Mond und dann zum Mars“
Alexander Gerst über Forschung und Leben im All, den Blick auf Thüringen, dramatische Umweltsünden, den Umgang mit Angst und Kinoabende im Raumschiff
Mit 362 Tagen ist Alexander Gerst, Astronaut der Weltraumorganisation ESA, europäischer Rekordhalter im All. Von seiner zweiten Mission – die erste war 2014 – kehrte er im Dezember 2018 nach über sechs Monaten zurück. Wir sprachen mit dem 43-jährigen Astronauten und Geophysiker aus Künzelsau, der am 7. Juni zur Raumfahrt-Show nach Erfurt kommt.
Der Jen-Tower ist mit 144 Metern das höchste Bürogebäude Thüringens. Wie hoch müsste er oder eine Gebirgserhebung mindestens sein, dass sie vom All aus etwa 400 Kilometer Entfernung zu sehen sind?
Mit der Kamera, mit einem 800er Objektiv, kann man manchmal schon Autos sehen. Somit definitiv auch den Jen-Tower. Mit bloßem Auge sind Städte erkennbar, auch das Erfurter Stadion. Bei einzelnen kleineren Gebäuden ist das wegen der hohen Geschwindigkeit des Raumschiffs – acht Kilometer pro Sekunde – eher schwer.
Schauen Sie oft sehnsüchtig nach oben, weil Sie wieder da hoch wollen?
Natürlich ist das ein Wunsch, den sicherlich die meisten Astronautinnen und Astronauten haben. Wann immer ich die Raumstation ISS – sie ist von der Erde aus gut sichtbar – erspähe, werden die Erinnerungen an meine Missionen sehr lebendig.
Wenn Sie die Wahl hätten: noch mal ein ISS-Besuch, eine Mars-Expedition oder eine Mond-Reise: für was würden Sie sich entscheiden?
Auf der ISS war ich zweimal, das war wunderbar, ich würde auch bei einem dritten Mal nicht Nein sagen. Aber noch faszinierender finde ich, ein Stück weiter raus zu fliegen, zum Mond und dann weiter zum Mars. Der Mond ist unser nächster Nachbar, eine Art achter Kontinent, der gerade mal drei Reisetage entfernt ist. Wir von der ESA bauen gerade mit unserem Partner, der NASA, das nächste Raumschiff, das zum Mond fliegen soll. Das passiert zur Hälfte in Deutschland. Wir Deutschen sind also, gemeinsam mit anderen Mitgliedsstaaten der ESA, bei dieser Expedition entscheidend beteiligt.
Sie haben insgesamt rund ein Jahr im Weltraum verbracht, Hunderte wissenschaftliche Experimente betreut.Die meisten Menschen kennen Sie allerdings wegen Ihrer Fotos und von Twitter. Stört Sie das und fühlen Sie sich als Star?
Zum Glück werde ich zu einem Großteil als Wissenschaftler und Entdecker wahrgenommen. Das ist mir auch wichtig, weil es mein Ursprung ist. Und die Bilder haben ja auch einen wissenschaftlichen Hintergrund. Als Entdecker muss man die Perspektiven, die Abenteuer, teilen. Das ist kein Selbstzweck, sondern es ist wichtig für die gesamte Menschheit.
Die Bekanntheit ist ein Nebeneffekt. Wobei es nicht meinem Wesen entspricht, dass ich als Star angesehen werde. Mir wäre es lieber, wenn die jungen Menschen denken: was der Alexander Gerst kann, das können wir auch schaffen. Oder noch mehr.
Viele bewundern Sie – wen bewundern Sie?
Menschen, die ihren eigenen Weg gehen, die aus Überzeugung handeln, die die Wissenschaft vorantreiben. Entdecker wie beispielsweise Galilei oder Kopernikus, die revolutionäre Ideen hatten und sich trotz Widerstands getraut haben, für ihre Überzeugungen einzustehen.
Welche waren die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse bei Ihren Missionen?
Eine Expedition ist kein Einzelprodukt, sie ist immer in Serie zu sehen. Auf der ISS wird seit 20 Jahren Forschung betrieben – beispielsweise, um ein besseres Verständnis von irdischen Krankheiten zu entwickeln. Nehmen wir Parkinson: In der Schwerelosigkeit können wir die zerstörerischen sogenannten LRRK2-Proteinkristalle viel größer züchten als auf der Erde. Diese brauchen wir, um wirksame Medikamente zu suchen. Oder wir testen Medikamente gegen Krebs. Die Tumore wachsen in der Schwerelosigkeit dreidimensional wie im Körper, bei der Forschung auf der Erde oft nur zweidimensional.
Komplett neu entdeckt wurde unter anderem eine bisher unbekannte Art Flamme, die bei geringeren Temperaturen brennt. Vielleicht nutzbar als Vorbrennstufe für sauberere Kraftwerke.
Was haben Sie im All am meisten vermisst?
Die Familie, das Leben auf der Erde. Es ist schön, im Wald zu joggen, Wind im Gesicht zu spüren, Regen und Sonnenschein wahrzunehmen, beim Gang vor die Haustür wie selbstverständlich Luft zum Atmen zu haben.
Glauben Sie an Leben in anderenGalaxien?KollegeUlf Merbold hat gesagt, wir Menschen sollten nicht die Arroganz haben und denken, dass wir allein im Weltall sind.
Niemand von uns sollte sich darauf verlassen, was andere glauben. Die Erkenntnis ist das Entscheidende, nicht die Eventualität.
Wir sollten also zum Mars fliegen und schauen, ob es dort Spuren von Leben gibt, ausgestorbene Fossilien oder Mikroben. Finden wir Ähnliches, würde das bedeuten, dass im Universum das Leben wahrscheinlich blüht, viele weitere Zivilisationen in verschiedenen Stufen existieren, womöglich deutlich weiter entwickelt als auf der Erde.
Wie groß ist Ihre Bange um deren Zukunft? Sie haben sich bei Ihren noch ungeborenen Enkelkindern in einer Videobotschaft entschuldigt.
Ich hoffe, dass unser Planet noch zu retten ist. Denn dort oben, im erdnahen Orbit, verändern sich im Angesicht der Unendlichkeit die Perspektiven. Ich habe auf der Erde seltener darüber nachgedacht, dass unsere Ressourcen mal zu Ende gehen können. Im All drängt sich dieser Gedanke förmlich auf. Für das unendliche Universum ist es unwichtig, was wir auf der Erde tun. Aber für uns entscheidet sich durch unsere Handeln die Zukunft. Wenn wir die Biosphäre des blauen Planeten nachhaltig schädigen, dann gibt es uns Menschen vielleicht bald nicht mehr. Wir können uns selbst ausrotten, wenn wir nicht aufpassen.
Welche Umweltsünden fallen beim Blick aus dem All besonders auf?
Man sieht abgeholzte Regenwälder, schwindende Gletscher, Smog, Feuer. Im Sommer fällt auf, wie braun Europa wegen der Trockenheit ist. Aber ob man das alles mit bloßem Auge von dort oben sehen kann, das ist nicht der wichtige Punkt. Schon alleine der Menschenverstand sollte uns sagen, dass Nachhaltigkeit der Schlüssel zum Überleben unserer Spezies ist. Es ist ja keine Neuigkeit, dass wir die Erde nicht gut behandeln, manche Fehler irgendwann nicht mehr revidierbar sind. Das zeigen auch die Klimadaten, die wir im All messen.
Darüber reden Sie ja sicherlich auch bei Treffen mit Politikern, wie kürzlich im Bundestag? Und könnten Sie sich eine Karriere in diesem Bereich vorstellen? Sie sind klug, müssen Kompromisse eingehen und Entscheidungen treffen…
Danke für das Kompliment, aber so etwas schwebt mir nicht vor. Die Leute hören mir zu, weil ich eine Sprache spreche, die keine politische Richtung hat, sondern die Vernunft anspricht.
Haben Sie sich ein Souvenir aus dem All mitgebracht?
Dort oben gibt es ja nichts, da ist nur Vakuum. Von der Raumstation habe ich auch nichts abgeschraubt. Ich war in der zweiten Hälfte meiner Mission Kommandeur und deshalb umso sorgfältiger darauf bedacht, dass die Station nach meiner Zeit mindestens in einem ebenso guten Zustand wie zuvor oder sogar noch besser in Schuss ist.
Stimmt es, dass auf der ISSRaumstation jeden Samstag die Leinwand zu einem Filmeabend ausgerollt wurde?
Ja, das war die Zeit, als meine beiden Kollegen im Oktober ihren Flug mit der Sojus-Rakete zu uns abbrechen und in der Steppe notlanden mussten. Danach stand fest, dass wir nun mehrere Monate nur zu dritt auf der Raumstation arbeiten. Für mich als Kommandant war sofort klar, dass ich mich noch mehr als zuvor um meine Crew kümmern und sie motivieren musste.
Wir haben zum Beispiel jeden Abend gemeinsam gegessen, öfters bin ich von meinem Modul auch zu meinem russischen Kollegen geschwebt, um kurz mit ihm zu reden oder ihm einen Kaffee vorbeizubringen. Die Filmeabende dienten der gemeinsamen Entspannung.
Welchen Film haben Sie denn ausgewählt?
Unter anderem einen Zweiteiler über die Antarktis-Expedition des britischen Polarforschers Ernest Shackleton. Er hatte sein ursprüngliches Ziel, die Antarktis zu durchqueren, nach einem Notfall aufgeben müssen. Er war also in einer ähnlichen mentalen Situation wie wir. Aber er definierte ein neues Ziel: die Rettung der Mannschaft. Das hat er dann in beispielhafter Art und Weise getan. Er war einer der besten Anführer, die ich kenne. Und es war für unsere Crew gut zu sehen, dass auch andere Menschen aus einer komplizierten Situation herauskommen.
Angst ist ja dann zu spüren, wenn eine Situation außer Kontrolle ist. Besonders, wenn akute Lebensgefahr besteht. Das Gefühl kennt wohl jeder Mensch, auch wir Astronauten. Wir versuchen allerdings, jegliche irrationalen Reaktionen zu vermeiden, indem wir viel trainieren, uns auf alle Eventualitäten einstellen. Dass es eben nicht nur einen Plan A, sondern auch einen Plan B und C gibt. Das beruhigt ungemein. Denn es verhindert den Kontrollverlust.
In der Sojus-Kapsel, mit der Sie zur ISS geflogen sind, wurde ein Loch entdeckt.
Das war schon aufregend, in so einer Situation muss man richtig reagieren und handeln. Da ist kein Platz für Fehler. Wir haben die entsprechende Notfallprozedur durchgeführt und ermittelt, wo der Druckverlust herkommt. Schließlich haben wir das Loch, das hinter einer Wandverkleidung lag, repariert. Für den Rückflug hatte es keine Relevanz, da es sich in einem Teil unseres Raumschiffes befand, der vor dem Wiedereintritt ohnehin abgeworfen wird.
Der erste Deutsche im All war Sigmund Jähn. Sind Sie ihm begegnet?
Selbstverständlich, wir sind gute Freunde.
Er kommt aus dem Vogtland, Astronauten-Kollege Ulf Merbold stammt aus Greiz. Haben Sie noch weitere Verbindungen zu Thüringen?
Ich habe Bekannte in Weimar und ich denke sehr gern an die Raumfahrt-Show im letzten Jahr.
Als Sie von über 1000 Schülern aus Erfurt ins All gegrüßt wurden.
Ja, mit einem von ihnen selbst am Boden geformten Bild! Zu lesen war „Hallo Alex.
Thüringen ist übrigens aus dem Weltall auch gut zu sehen. Vor allem der Thüringer Wald sticht heraus, er ist dunkelgrün, fast schwarz, hebt sich von den Feldern deutlich ab. Ich freue mich also sehr, wenn ich am 7. Juni nach Erfurt komme.
Was können die Zuschauer bei der Show erwarten?
Ich werde über meine Missionen berichten, freue mich, dass Kinder und Schüler freien Eintritt haben. Ich rede über den Weltraum, warum wir da hochfliegen, welche Experimente wir durchführen, wie es sich anfühlt, im All zu leben und zu arbeiten. Meine allerwichtigste Botschaft lautet, dass junge Leute ihren Träumen eine Chance geben sollen. Man soll sich diese nicht ausreden lassen. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich mal Astronaut werde.
Also ist das viele Geld für die Raumfahrt gerechtfertigt? Sollte Deutschland noch mehr dafür ausgeben?
Da hätte ich jetzt mal eine Gegenfrage: was denken Sie, wie viel jeder Europäer für die gesamte Raumfahrt, für Erdbeobachtungsund Wettersatelliten, für die Satellitennavigation, für Expeditionen zur ISS bezahlt?
Oh, ich sage mal 100 Euro.
Eine ähnliche Zahl hören wir oft. Die reale ist in Deutschland für die gesamte Raumfahrt weniger als 20 Euro pro Jahr. Dafür, dass Menschen ins All fliegen können, sind es lediglich 1,50 Euro – also ungefähr ein Kaffee pro Jahr. Studien haben ergeben, dass man für jeden Euro, den man in die Raumfahrt investiert ungefähr sechs zurück erhält. Wobei sich manches erst in zwei Jahrzehnten oder noch später auszahlt. Deutschland lebt als Hochtechnologie-Land davon, den Nachwuchs für Wissenschaft und Technik zu inspirieren, ihn an Universitäten bilden zu lassen, in die Zukunft zu investieren.
Was machen Sie aktuell? Warten Sie auf den Anruf mit der Mitteilung, dass Sie wieder ins All können?
Ich bin ja erst seit Kurzem zurück, wir haben von der Expedition immer noch wissenschaftliche Vergleichsdaten, die wir aufnehmen und analysieren. Mein Hauptjob wird vorerst sein, künftige Missionen vorzubereiten, meine Erfahrungen für solche Projekte einzubringen. Ich werde auch im ESA-Astronauten-Team bleiben, für weitere Flüge ins All zur Verfügung stehen. Es ist aber nicht so, dass ich unentwegt auf den Anruf warte. Ich weiß, der könnte noch Jahre auf sich warten lassen.