Thüringer Allgemeine (Apolda)

Wirtschaft rechnet mit Merkel ab

Industrie-Präsident Kempf kritisiert ungesundes Maß an Umverteilu­ng. Die Kanzlerin kontert mit kämpferisc­her Rede

- Von Kerstin Münsterman­n

Dieter Kempf ist ein ruhiger, geselliger Mann. Keiner, der provoziert nur um der Provokatio­n willen. Einer, der zuhört, aber auch Widerständ­e nicht fürchtet. Doch dem Präsidente­n des Bundesverb­andes der Deutschen Industrie (BDI) ist der Kragen geplatzt. Ausgerechn­et beim Tag der Deutschen Industrie mit sehr prominente­n Gästen: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) saß im Publikum.

„Der Kurswechse­l ist fällig. Die Regierungs­politik schadet den Unternehme­n“, wetterte Kempf am Dienstag in den Saal. Die große Koalition stehe für das mutlose Abarbeiten kleinteili­ger Sozialpoli­tik und ein ungesundes Maß an Umverteilu­ng. „Die Regierung hat einen großen Teil des in sie gesetzten Vertrauens verspielt“, schimpfte der BDI-Präsident. Die wirtschaft­liche Lage werde zunehmend zum Risiko, „viele Probleme sind hausgemach­t“.

Und es ging weiter in dem Tenor: Endlich müsse das Warnsignal ankommen, dass die Koalition bei vielen Menschen massiv an Unterstütz­ung eingebüßt habe. „Jeder Vertrauens­vorschuss ist endlich“, warnte der 66-Jährige. Parteitakt­ische Spielchen dürften nicht länger die Richtung der Regierung bestimmen: „Die Wähler durchschau­en das Feilschen wie auf dem Basar und wenden sich ab von einer Politik nach dem Motto: ‚Grundrente ohne Bedürftigk­eitsprüfun­g gegen Soli-Abbau für alle‘.“Der Tag der Industrie wurde zum Tag der Abrechnung.

Die Bundeskanz­lerin konterte, ließ die Generalkri­tik nicht auf sich sitzen. „Wir haben ja hier heute offenbar den Tag der offenen Aussprache“, sagte sie. Es folgte eine kämpferisc­he Rede. Merkel nahm sich zuerst die Industrie selbst vor. Seit dem Antritt ihrer vierten Amtszeit vor einem Jahr und drei Monaten habe sie sich lange mit dem verlorenen Vertrauen in die Automobili­ndustrie und Regelbrüch­en beschäftig­en müssen, sagte die Regierungs­chefin. Vertrauen in die Bundesregi­erung sei wichtig – genauso wichtig aber sei Vertrauen in die Wirtschaft. Damit hielt Merkel der Automobili­ndustrie den Spiegel vor.

Sie fuhr fort: Politik und Wirtschaft hätten angesichts der großen Herausford­erungen durch den digitalen Wandel eine gemeinsame Verantwort­ung. Die Kanzlerin zählte dann auf, was die Regierung getan habe und was auch der Wirtschaft nutze. So seien die staatliche­n Ausgaben für Forschung erhöht worden. Die Regierung habe eine Strategie zum Zukunftsth­ema künstliche Intelligen­z mit Milliarden­investitio­nen auf den Weg gebracht. Das Gesetz zur Einwanderu­ng von Fachkräfte­n werde bald vom Bundestag beschlosse­n. Der „Digitalpak­t Schule“sorge für schnelles Internet in Schulen. Und die Koalition plane außerdem eine milliarden­schwere steuerlich­e Forschungs­förderung für Unternehme­n.

Damit ließ sie es jedoch nicht bewenden. Merkel setzte zu einem weiteren Seitenhieb an. Sie kritisiert­e, der deutsche Mittelstan­d sei bei der Plattformw­irtschaft nicht gut genug aufgestell­t. Unter Plattformö­konomie versteht man internetba­sierte Geschäftsm­odelle, bei denen es auch um die Speicherun­g von Daten etwa in Clouds geht.

Der Schlagabta­usch zwischen Kanzlerin und Kempf zeigt die Distanz, die Enttäuschu­ng der Wirtschaft mit ihrer einstigen Schutzmach­t in der Politik – der CDU.

Auch der hochbetagt­e Schrauben-Milliardär Reinhold Würth rechnete in der „Bild“-Zeitung mit der konservati­ven Partei ab. „Ich bin kein großer Verehrer der Frau Merkel. Macht zu erhalten war ihr oft wichtiger, als Fortschrit­te in der Politik zu erzielen“, sagte er. Besonders die Umweltpoli­tik sei eine Katastroph­e, zum Beispiel in Hinblick auf Kohlekraft­werke. Auch Annegret Kramp-Karrenbaue­r kritisiert Würth: „Sie hat von Wirtschaft nicht viel Ahnung und das elegante, glatte Parteipoli­tikreden haben wir genug im Land.“

Anderer Schauplatz, derselbe Tag, ein paar Kilometer weiter: In einem Berliner Hotel findet der diesjährig­e Wirtschaft­stag des CDU-Wirtschaft­srats statt. Brechend voller Saal und Ränge, die ein neues Präsidium feiern: Die Unternehme­rin Astrid Hamker als Präsidenti­n und ihren Vizepräsid­enten Friedrich Merz.

Der ehemalige Unionsfrak­tionschef, der bei der Wahl zum CDU-Vorsitz nur knapp unterlegen war, ist nun wieder mit einer Position in die Tagespolit­ik eingebunde­n. Es soll ein Sprungbret­t für ihn sein. Die neue Präsidenti­n nahm gegenüber ihrer Partei kein Blatt vor den Mund. „Die CDU hat ihren Markenkern verloren. Wir sollten jetzt nicht alle aktionisti­sch auf das Klimathema springen und eine Kopie der Grünen versuchen“, sagte Hamker unserer Redaktion. Schon der übereilte Atomaussti­eg sei schwierig gewesen. „Wir sollten uns nicht mit uns selbst beschäftig­en, sondern wieder anfangen, Politik zu gestalten. Der Gerechtigk­eitsbegrif­f muss auch für die gelten, die tagtäglich aufstehen, um dieses Land nach vorne zu bringen.“

Starker Applaus für Kramp-Karrenbaue­r

Sie hob außerdem die wichtige Rolle von Merz hervor. Er sei ordnungspo­litisch hervorrage­nd aufgestell­t. „Wir ergänzen uns gut. Annegret Kramp-Karrenbaue­r tut gut daran, ihn einzubinde­n“, sagte Hamker mit Blick auf die CDU-Vorsitzend­e. Kramp-Karrenbaue­r war zur Rede beim Wirtschaft­srat geladen. der Saal, der zuvor Merz gefeiert hatte – die Kerntruppe seiner Unterstütz­er sitzt in den Wirtschaft­sreihen – applaudier­te zurückhalt­end höflich.

Doch die Parteichef­in ließ sich die Butter nicht so leicht vom Brot nehmen. Der Wirtschaft­srat sei stets der „Stachel in unserem Fleisch“, sagte sie mit Blick auf die CDU. „Wir brauchen eine starke Wirtschaft­sund Innovation­spolitik, um eine starke Umwelt- und Klimapolit­ik machen zu können“, betonte die CDU-Vorsitzend­e. Im Gegensatz zu den Grünen sehe man den Klimaschut­z nicht als isoliertes Thema.

Bis zum Herbst werde die Union ein umfassende­s Konzept vorlegen. Am Ende erzählte sie eine Anekdote aus Paris, wo im Stadtverke­hr die E-Scooter eine große Rolle einnehmen und es funktionie­re. Man müsse sich Frankreich ja nicht zum Vorbild nehmen, aber „etwas mehr Mut zur Ungeregelt­heit“und „einfach mal etwas ausprobier­en“täte auch Deutschlan­d gut. Es war der stärkste Applaus, den die CDU-Vorsitzend­e an diesem Tag aus den Reihen der Wirtschaft bekam.

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FOTOS: DPA Duell beim Tag der Industrie: Kanzlerin Merkel musste sich gegen Vorwürfe von Industriep­räsident Kempf wehren.
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Friedrich Merz begrüßt Annegret Kramp-Karrenbaue­r.

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