Dorfkümmerin
„Landsterben“neue Strukturen der Selbsthilfe und Versorgung entgegensetzen
hat, den Alltag zu stemmen und dem sie lange zuhörte. Manchmal ist schon das ein Wert. Es gibt, bemerkt sie, auch viel Einsamkeit, aber die ist unsichtbar. Die junge Frau hilft jetzt einer Seniorin bei der Hausarbeit. Wer so viel in den Dörfern unterwegs ist, erfährt viel über die Menschen.
„Trinken Sie viel, es wird heiß heute!“, ruft sie Frau R. noch zu und schickt ein Lachen hinterher. Sie lacht überhaupt viel und ansteckend. Der reinste Gegenentwurf zur Stille auf dem Dorfanger, wenn sie ausholt, um von ihrem Job zu erzählen, von dem sie sagt, sie freue sich am Sonntag schon auf den Montag.
57 Jahre ist sie alt und gelernte Krankenschwester. Sie ist im Nachbardorf aufgewachsen und ist für den Beruf in die Stadt gezogen. Lange hatte sie geglaubt, nie wieder auf dem Dorf leben zu können. Dann hatten sie und ihr Mann sich doch zur Rückkehr entschlossen, ein Haus gebaut und jetzt, sagt sie will sie nie wieder weg. Sie hat in der Intensivpflege gearbeitet, viele Schichten, irgendwann wollte sie diesen Druck nicht mehr. Als ihr die Stelle als Dorfkümmerin vorgeschlagen wurde, hat sie nicht lange überlegt. Die Arbeit sagt sie, ist das Schönste, was mir passieren konnte.
Drei Kilometer weiter in Kirchheilingen sitzt Projektleiter Christopher Kaufmann im Büro der Stiftung „Landleben“und spricht von einer ganzheitlichen Grundversorgung. Eine Reihe lokaler Protagonisten sind Kooperationspartner der „Landengel“. Vom niedergelassenen Kieferorthopäden, der ansässigen Agrargenossenschaft bis zur Kosmetikerin. Man könnte es ein Bündnis von Dorfoptimisten nennen. Der vereinseigene Kleinbus ist fast täglich unterwegs, sechs Fahrer wechseln sich ab und sie tun das ehrenamtlich.
Denn dieser Fahrdienst ist kein cleveres Geschäftsmodell, das den Dienstleistern die Kundschaft vor die Tür fährt. Er ist eine Antwort auf weggebrochene Versorgungsstrukturen auf dem Land. Dass nebenher auch Kommunikation entsteht und neue Netze gegenseitiger Hilfe ist mehr als nur ein Mehrwert des Projektes. Es ist sein eigentliche Kern. Der Versuch, Strukturen des Miteinanders, die immer eine Stärke des Dorfes waren, und die Landflucht und Demografie zum Opfer fallen, neu zu beleben.
Begonnen hatte das vor gut vier Jahren mit dem Sofa. Dem plüschigen Lieblingsstück in den Wohnzimmer der Dorfbewohner, auf das sich Christopher Kaufmann auf seiner Gesprächstour niederließ, weshalb sie es in der Stiftung ihre „Sofastudie“nannten. Um zu erfahren, was die Menschen von ihrem Leben auf dem Dorf halten, was fehlt, was erhalten werden muss, damit die Jungen bleiben wollen und die Alten es können. Die „Landengel“sind eine Konsequenz aus dem Befund. Und deshalb ist Estella EhrichSchmöller nicht nur Koordinatorin des Fahrdienstes, sondern die Dorfkümmerin. Eine Lotsin, die Menschen zusammenbringt, weil sie die Dörfer kennt und seine Bewohner. Die am Ende ihrer Sprechstunde an der Haustür von Helene Vogel klingelt. Milchreis! Was bei Frau Vogel auf dem Herd köchelt, ist schnell ermittelt. Im Dorf lebt die Familie, aber die arbeitet tagsüber, weshalb die Dorfkümmerin hier regelmäßig vorbeischaut. Nichts Akutes, nur ein kleiner Plausch, und wenn nebenher der Blutdruck gemessen wird, ist das auch nicht verkehrt. Neben dem Sessel steht ein Rollator, sie ist nicht mehr gut zu Fuß. Auch das Hören macht Probleme, sie ist 97 Jahre alt. Aber ihr Mittagessen kocht sie selber. In einem Alltag, dem das Alter enge Grenzen setzt, ist das ein wichtiges Stück Selbstbestimmung.
Das soll so lange wie möglich so bleiben können: Leben in den eignen vier Wänden. Auch darum geht es.
In ihrer Jugend hat Helene Vogel als Gemeindeschwester gearbeitet. Ein wenig, erzählt sie, erinnere sie die Dorfkümmerin daran. „mehr Zeit“, sagt die alte Frau. „Ein alter Mensch braucht Zeit, aber heute muss alles Christopher Kaufmann, Projektleiter bei der Stiftung „Landleben“
nach der Uhr gehen“.
Mehr Zeit für den Menschen. Sie wiederholt das mehrfach.
Der Plausch mit Helene Vogel ist der erste von zwei Hausbesuchen, zu denen die Dorfkümmerin an diesem Vormittag aufbricht. Sechs bis sieben sind es in der Woche, dazu die Sprechstunden in sechs Dörfern.
Sie kämpft sich mit Senioren durch Behördendeutsch beim Ausfüllen von Anträgen vom Wohngeld bis zum Rundfunkbeitrag. Sie ist da, wenn der Medizinische Dienst wegen der Pflegestufe kommt und keine Angehörigen dabei sein können. Sie passt auf, dass eine kranke 78-Jährige ihre Medikamente auch mittags einnimmt, weil der Pflegedienst nur am Morgen und am Abend kommt... Es würde nicht wundern, wenn ihr das Kunststück gelänge, an zwei Orten gleichzeitig zu sein.
Das wäre nicht schlecht. Nach drei Monaten steht jetzt schon fest, dass zu ihren 25 Wochenstunden, gut noch einmal so viele dazukommen könnten. Und es soll erst der Anfang sein.
Der kühne Entwurf geht etwa so: In den sechs Seltenrain-Dörfern sollen kleine Gesundheitskioske entstehen, in denen die Dorfkümmerin künftig ihre Sprechstunden hält und die Räume für Begegnungen sind. Angedockt an ein zentrales Ambulatorium, das Christopher Kaufmann „Mutterschiff“nennt. Mit allen Angeboten, die der Alltag braucht, von Arztpraxen bis zur Tagespflege und Frisör. Keine verträumte Vision, sondern inzwischen ein handfestes Projekt der Internationalen Bauausstellung Thüringen. Ein Ausblick, wie Zukunft auf dem Land aussehen könnte.
Ein Zukunftsentwurf für das Leben im Dorf