Die Kraft der Pfeile
Wo das Ziel nebensächlich ist: Die Erfurterin Steffi Gräser bietet als lizenzierte Trainerin therapeutisches Bogenschießen an
„Der Bogensport boomt in allen Ecken und Enden“, freut sich Steffi Gräser über die steigende Zahl an Thüringer Schützensportvereinen, die das Bogenschießen als Trainingsangebot aufgenommen haben. Sie selbst ist vor 20 Jahren zu diesem Sport gekommen. Nach einer Probestunde im Urlaub habe es keine zwei Wochen gedauert und sie war im Verein angemeldet. Inzwischen ist die 54-Jährige mehrfache Landesmeisterin, hält den Landesrekord mit dem olympischen Recurve-Bogen und füllt die Regale im Trainingszentrum des SV Erfurt West 90 mit Pokalen. Denn hier trainiert sie das Bogenschießen nicht nur selbst, sondern ist auch ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendarbeit engagiert.
Dass sie nahezu all ihre Freizeit in diesen Sport investiert, empfindet sie mehr als Glück denn als Last. Und ist vor allem ihrer Familie dankbar. „Sie lassen mich meine Leidenschaft leben“, strahlt die Mutter eines Sohnes. In der Rolle als Trainerin liebe es sie besonders, Kinder undJugendlicheinihrerPersönlichkeitsentwicklung zu begleiten. Mitzuerleben, wie aus dem schüchternen Jungen ein selbstbewusster Bogenschütze heranwächst. Oder auch mal den Übereifer zu bremsen und daran zu erinnern, die Bälle etwas flacher zu halten. Wenn sie Gruppen mit bis zu 30 Kindern trainiert, müsse sich jeder an Regeln halten. „Disziplin und Respekt gehören dazu, sonst funktioniert es nicht“, sagt die Erfurterin.
Das Wichtigste sei jedoch Vertrauen. Das gelte speziell im therapeutischen Bogenschießen. Als Gräser 2010 zum ersten Mal mit Bewohnern des Christlichen Jugenddorfs Erfurt (CJD) trainierte, Menschen mit geistigem oder körperlichem Handicap, entdeckte sie die therapeutischen Ansätze und begann sich zu belesen. Nach zwei Jahren kam sie nicht mehr weiter. Also absolvierte Gräser eine zertifizierte Ausbildung zur lizenzierten Trainerin für therapeutisches Bogenschießen im psychosomatischen und muskulären Bereich.
Besonders stolz mache sie rückblickend die Entwicklung von Thomas Schneidewind. Fast drei Jahre lang hat es gedauert, bis der heute 30-Jährige seinen ersten Pfeil geschossen hat. Im nächsten Schritt schaffte es der junge Mann mit verminderter Intelligenz, in 90 Minuten drei Pfeile zu schießen. „Mittlerweile nimmt Schneidi sogar an kleinen Wettkämpfen teil, wo er aus zehn Metern auf die Scheibe zielt“, erzählt Gräser.
Dass die Jungs aus dem CJD so lange dabei sind, sei eher ungewöhnlich. „Normalerweise verlieren sie schnell das Interesse an etwas. Doch beim Bogenschießen haben sie so viel Spaß, dass sie sich schon Tage vor der nächsten Trainingsstunde darauf freuen“, sagt Florian Hanisch, Teamleiter der Wohngruppe um Thomas Schneidewind. Der Sport sei nicht nur gut für die emotionale Stabilität der Jungs, sondern durch den Prozess der permanenten An- und Entspannung auch für die Schulung der Fein- und Grobmotorik. „Wichtig ist, dass die Jungs eine feste Struktur haben. Das lässt sich später auf den Alltag übertragen“, sagt Hanisch.
Routiniert beginnen Steffi und Thomas mit dem Training: die Sportschuhe werden angezogen und der Bogen gespannt. Weiter geht es mit der Erwärmung und dem eigentlichen Schießen auf eine Wand aus Kork: an die Linie stellen, Bogen auf den Fuß, Pfeil einspannen. Der Bogen hebt ab. Der Blick geht nach vorn, die Hand zieht den Pfeil zurück. Körperspannung halten, Hand öffnen und der Pfeil schnellt in die Wand. Immer die gleiche Abfolge. „Manchmal machen wir auch kleine Schießspiele“, sagt Steffi Gräser.
Weniger um das Treffen eines bestimmten Zieles gehe es hingegen beim therapeutischen Bogenschießen im psychosomatischen Bereich. Hier bestehe der Ansatz vielmehr darin, sich selbst auf eine andere Weise kennenzulernen und neu zu bewerten. „Mit Magie hat das aber nichts zu tun“, betont Gräser. Denn: „Es ist sicherlich nicht so, dass jemand einen Bogen spannt und sich mit dem Loslassen des Pfeils all seine Probleme lösen.“
Wichtig sei zunächst, Körper und Geist in Einklang zu bringen und Ruhe zu finden. Durch das Erleben der eigenen Kraft in der Bewegung sowie im Loslassen des Pfeils können schließlich Muster erkannt werden, die es in Hinblick auf die eigene Persönlichkeit zu reflektieren gilt. Wenn etwa jemand Probleme damit habe, seine Finger zu entspannen, um den Pfeil frei zu geben, könne dies ein Anzeichen auf Verlustängste sein. „Auch wenn das für Laien befremdlich klingt, kann es funktionieren. Auch ich war zunächst skeptisch und musste die Erfahrung an mir selbst machen um zu merken, was da mit einem passiert.“
Als weiteres Beispiel erzählt Gräser: „In der zweiten oder dritten Sitzung arbeite ich gern mit zwei Wänden. Eine Seite steht für die Charaktereigenschaften, die mein Klient an sich mag. Die andere Seite für die vermeintlich negativen Züge.“Vor jedem Versuch müsse sich der Schütze intuitiv für eine Seite entscheiden und sich eine konkrete Eigenschaft vor Augen führen. Ohne den Gedanken laut auszusprechen, nimmt er den Bogen auf und zielt auf die Wand. „Der Pfeil fungiert hierbei als eine Art Medium. Das heißt, dass wir anhand der Flugkurve und dem Einschlag des Pfeiles reflektieren können, was es mit dem Gedanken auf sich hat und unsere Selbsteinschätzung überdenken“, fährt sie fort.
Oft seien etwa Selbstzweifel völlig unberechtigt. Ist es wirklich schlecht, etwas lauter zu sein? Oder ist es eine Schwäche, schüchtern zu sein? „Indem wir uns zu sehr von anderen beeinflussen lassen, vergessen wir, was für ein toller Mensch wir sind“, sagt Gräser. Hier setze das therapeutische Bogenschießen an. „Durch das Spüren der Kraft, die vom eigenen Körper ausgeht und sich auf den Pfeil überträgt, passiert hier nicht nur etwas im Kopf, sondern im gesamten Körper“, erklärt sie.
Solch eine Erfahrung hat auch Pia-Maria Meier gemacht. „Es gab einen Punkt in meinem Leben, an dem habe ich gemerkt, dass es Veränderung braucht. Ich war zu eingefahren, wusste aber keine Lösung, wie ich meine Ängste überwinden und meine Probleme bewältigen könne“, blickt sie zurück. Als die leidenschaftliche Sportlerin in der Zeitung vom therapeutischen Bogenschießen gelesen hatte, nahm sie Kontakt mit Steffi Gräser auf. „Ich bin überhaupt kein Typ für autogenes Training oder Esoterik und Spirituelles. Doch da ich mich schon immer für das Bogenschießen interessiert habe, wollte ich diesen Ansatz einmal probieren“, sagt sie.
Bereits in einer Probestunde habe sie gemerkt, dass die Chemie zwischen den beiden Frauen passt. „Die Betreuung ist sehr emotional und du sprichst über Dinge, die du dich sonst nicht traust. Aber hier passt es einfach in den Raum“, erzählt sie. Die menschliche Ebene spiele in der 1:1-Betreuung eine große Rolle, da sich zwei fremde Menschen sehr schnell sehr nahe kommen. Zudem ist das therapeutische Bogenschießen kein ewiger Prozess, sondern auf fünf Einheiten von jeweils 90 Minuten angelegt. „Es macht keinen Sinn, ewig herum zu eiern. Sinn und Zweck ist es, den Klienten anzustupsen, ihm Wege aufzuzeigen“, erklärt Gräser. „Dabei diktiere ich ihm nicht, wie er es besser machen soll. Er muss selbst den nächsten Schritt ist und die Antworten auf seine Fragen finden.“
Genau das habe bei Pia-Maria Meier funktioniert. Durch den Prozess von An- und Entspannung übertrage sich die Energie aus der eigenen Atmung auf den Pfeil. „Es war jedes Mal spannend zu erfahren, was mir die Pfeile über mich selbst zu sagen haben“, erzählt sie euphorisch. Noch heute profitiere sie in schwachen Momenten von diesem für sie magischen Gefühl.
Inzwischen übt die 47-Jährige das Bogenschießen als Wettkampfsport aus. „Schon allein weil ich jetzt auf ein Ziel schieße, lässt sich das gut vom therapeutischen Ansatz trennen“, erzählt sie. Sie habe es geschafft, sich neu zu sortieren und den Mut für Veränderung aufzubringen: „Im Nachhinein muss ich sagen, dass dies das beste war, was mir passieren konnte.“