Scheitert die Ganztags-Grundschule?
Im Koalitionsvertrag war der Rechtsanpruch auf Nachmittagsbetreuung vereinbart. Länder warnen vor Finanzlücke
In zwei Monaten ist es wieder so weit. Einschulung der Erstklässler. Ein Fest für die meisten Kinder, gemischte Gefühle bei den Eltern. Denn: Mit dem Wechsel von der Kita in die Grundschule endet für viele die sichere Nachmittagsbetreuung. Wer nicht das Glück hat, in einer Stadt mit gutem Ganztagsangebot zu leben, muss unter großem Stress improvisieren. Die Bundesregierung will das ändern – mit einem bundesweiten Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Doch passiert ist bislang wenig. Die Länder warnen jetzt sogar vor einem Scheitern.
Wann soll der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz kommen?
Union und SPD haben sich im Koalitionsvertrag festgelegt: Bis 2025 will die GroKo gemeinsam mit den Ländern die Angebote so ausbauen, dass der Rechtsanspruch erfüllt werden kann. Der Bund stellt dafür zwei Milliarden Euro zur Verfügung – den Rest sollen die Länder liefern. Seit September 2018 gibt es eine Arbeitsgruppe, die die Details klären soll, doch die Verhandlungen sind zäh. „Konkrete Vereinbarungen wurden noch nicht getroffen“, heißt es auf Nachfrage im Haus von Familienministerin Franziska Giffey (SPD). Ein nächstes Treffen soll aber noch im Juni stattfinden.
Auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) spricht nicht ohne Grund von einem „anspruchsvollen“Vorhaben. Ein Fortschritt, so das Familienministerium, sei immerhin, dass seit Mitte Mai 2019 erstmals eine Einschätzung der Gesamtkosten vorliege: Gemeint ist eine Berechnung des Deutschen Jugendinstituts (DJI), die die Kosten für bauliche Investitionen und den laufenden Betrieb abschätzt. Die Forscher gehen dabei davon aus, dass 71 Prozent der Eltern Betreuungsbedarfanmelden–eine Zahl, die 2017 erhoben worden war. Derzeit gebe es nur für 48 Prozent ein Ganztagsangebot. Die Investitionskosten für den Ausbau bis 2025 lägen laut Studie zwischen 1,9 und 3,9 Milliarden Euro – je nachdem, wie hoch der Betreuungsumfang ausfällt.
Was heißt eigentlich „Ganztag“?
Das ist eine der entscheidenden Fragen. Denn: Jeder versteht etwas anderes darunter. Der eine meint gebundenen Unterricht bis 16 Uhr, der andere bloß ein Mittagessen plus offene Nachmittagsbetreuung. Für einen Rechtsanspruch muss aber festgelegt werden, auf welche Mindeststandards Eltern pochen können – und was freiwilliges Zusatzangebot der Schulen sein kann.
Laut Bildungsministerium ist ein konkreter Streitpunkt etwa die Frage, wie viele Betreuungsstunden der Rechtsanspruch abdecken soll. Täglich bis 16 Uhr? Bis 18 Uhr? In den Schulferien? Dabei spielt nicht nur die Frage der sicheren Betreuung und damit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Rolle: „Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung bietet viele Chancen – nicht nur für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, sagte Bundesbildungsministerin Karliczek unserer Redaktion. „Wichtig ist mir, dass am Ende eine bessere Förderung der Schülerinnen und Schüler steht.“Experten sehen die Alexander Lorz, Präsident der Kultusminiserkonferenz Ganztagsschule als Garant für Chancengleichheit bei der Bildung: Kinder aus bildungsfernen Familien, in denen die Eltern nur wenig beim Lernen unterstützen können, können so eine verlässliche Förderung bekommen. Heißt: Es geht nicht nur um Betreuungsplätze – also um Freizeiträume, Küchen und Speiseräume –, sondern auch um qualifiziertes Personal, um den richtigen Mix aus Lehrern, Erziehern, Betreuern.
Warum dauert es so lange?
Der größte Streitpunkt ist das Geld. Bund und Länder verhandeln derzeit über die Verteilung der zwei Milliarden Euro. Aus Sicht der Kultusministerkonferenz (KMK) ist das viel zu wenig: Nach Informationen unserer Redaktion rechnen die Länder mit Kosten von zehn Milliarden Euro pro Jahr für den Fall, dass ab 2025 ein Großteil der Eltern den Rechtsanspruch nutzen wird. „Bisherige Berechnungen gehen von einer Nachfrage nach Ganztagsplätzen aus, die nicht berücksichtigt, dass künftig bis zu 90 Prozent der Eltern einen Bedarf anmelden könnten“, erklärte KMK-Präsident Alexander Lorz dazu.
In diesem Fall würden die benötigten Kosten weit über den bisherigen Schätzungen liegen. „Die im Koalitionsvertrag zugesagte Unterstützung des Bundes beim Ausbau der Ganztagsbetreuung ist deutlich zu gering: Zwei Milliarden Euro bis 2021 reichen nach unseren Zahlen keinesfalls aus.“Die Forderung der KMK: „Wenn die Länder und Kommunen ab 2025 den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule erfüllen sollen, muss sich der Bund anstelle einer Einmalzahlung auch über das Jahr 2021 hinaus an den Kosten beteiligen“, so Lorz. „Andernfalls können die Länder nicht garantieren, dass alle Eltern, die einen Platz beanspruchen, auch einen Platz bekommen.“
Neben dem Geld kommt noch ein anderes Problem dazu: Deutschland ist beim Ganztag ein Flickenteppich. Die Angebote unterscheiden sich stark voneinander in Bezug auf Verbindlichkeit, Betreuungszeiten, Nachfrage und Finanzierung. In Städten wie Hamburg und Berlin, aber auch in den ostdeutschen Ländern gibt es bereits ein großes Angebot – anderswo dagegen fühlen sich viele Eltern mit der Betreuung alleingelassen.
Und schließlich ist da noch die Frage des Personals: Vollkommen unklar ist bislang, woher die zusätzlich benötigten Lehrer und Erzieher kommen sollen – schon jetzt herrscht Mangel.