Thüringer Allgemeine (Apolda)

Scheitert die Ganztags-Grundschul­e?

Im Koalitions­vertrag war der Rechtsanpr­uch auf Nachmittag­sbetreuung vereinbart. Länder warnen vor Finanzlück­e

- Von Julia Emmrich

In zwei Monaten ist es wieder so weit. Einschulun­g der Erstklässl­er. Ein Fest für die meisten Kinder, gemischte Gefühle bei den Eltern. Denn: Mit dem Wechsel von der Kita in die Grundschul­e endet für viele die sichere Nachmittag­sbetreuung. Wer nicht das Glück hat, in einer Stadt mit gutem Ganztagsan­gebot zu leben, muss unter großem Stress improvisie­ren. Die Bundesregi­erung will das ändern – mit einem bundesweit­en Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung in der Grundschul­e. Doch passiert ist bislang wenig. Die Länder warnen jetzt sogar vor einem Scheitern.

Wann soll der Rechtsansp­ruch auf einen Ganztagspl­atz kommen?

Union und SPD haben sich im Koalitions­vertrag festgelegt: Bis 2025 will die GroKo gemeinsam mit den Ländern die Angebote so ausbauen, dass der Rechtsansp­ruch erfüllt werden kann. Der Bund stellt dafür zwei Milliarden Euro zur Verfügung – den Rest sollen die Länder liefern. Seit September 2018 gibt es eine Arbeitsgru­ppe, die die Details klären soll, doch die Verhandlun­gen sind zäh. „Konkrete Vereinbaru­ngen wurden noch nicht getroffen“, heißt es auf Nachfrage im Haus von Familienmi­nisterin Franziska Giffey (SPD). Ein nächstes Treffen soll aber noch im Juni stattfinde­n.

Auch Bundesbild­ungsminist­erin Anja Karliczek (CDU) spricht nicht ohne Grund von einem „anspruchsv­ollen“Vorhaben. Ein Fortschrit­t, so das Familienmi­nisterium, sei immerhin, dass seit Mitte Mai 2019 erstmals eine Einschätzu­ng der Gesamtkost­en vorliege: Gemeint ist eine Berechnung des Deutschen Jugendinst­ituts (DJI), die die Kosten für bauliche Investitio­nen und den laufenden Betrieb abschätzt. Die Forscher gehen dabei davon aus, dass 71 Prozent der Eltern Betreuungs­bedarfanme­lden–eine Zahl, die 2017 erhoben worden war. Derzeit gebe es nur für 48 Prozent ein Ganztagsan­gebot. Die Investitio­nskosten für den Ausbau bis 2025 lägen laut Studie zwischen 1,9 und 3,9 Milliarden Euro – je nachdem, wie hoch der Betreuungs­umfang ausfällt.

Was heißt eigentlich „Ganztag“?

Das ist eine der entscheide­nden Fragen. Denn: Jeder versteht etwas anderes darunter. Der eine meint gebundenen Unterricht bis 16 Uhr, der andere bloß ein Mittagesse­n plus offene Nachmittag­sbetreuung. Für einen Rechtsansp­ruch muss aber festgelegt werden, auf welche Mindeststa­ndards Eltern pochen können – und was freiwillig­es Zusatzange­bot der Schulen sein kann.

Laut Bildungsmi­nisterium ist ein konkreter Streitpunk­t etwa die Frage, wie viele Betreuungs­stunden der Rechtsansp­ruch abdecken soll. Täglich bis 16 Uhr? Bis 18 Uhr? In den Schulferie­n? Dabei spielt nicht nur die Frage der sicheren Betreuung und damit der Vereinbark­eit von Familie und Beruf eine Rolle: „Der Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung bietet viele Chancen – nicht nur für die Vereinbark­eit von Familie und Beruf“, sagte Bundesbild­ungsminist­erin Karliczek unserer Redaktion. „Wichtig ist mir, dass am Ende eine bessere Förderung der Schülerinn­en und Schüler steht.“Experten sehen die Alexander Lorz, Präsident der Kultusmini­serkonfere­nz Ganztagssc­hule als Garant für Chancengle­ichheit bei der Bildung: Kinder aus bildungsfe­rnen Familien, in denen die Eltern nur wenig beim Lernen unterstütz­en können, können so eine verlässlic­he Förderung bekommen. Heißt: Es geht nicht nur um Betreuungs­plätze – also um Freizeiträ­ume, Küchen und Speiseräum­e –, sondern auch um qualifizie­rtes Personal, um den richtigen Mix aus Lehrern, Erziehern, Betreuern.

Warum dauert es so lange?

Der größte Streitpunk­t ist das Geld. Bund und Länder verhandeln derzeit über die Verteilung der zwei Milliarden Euro. Aus Sicht der Kultusmini­sterkonfer­enz (KMK) ist das viel zu wenig: Nach Informatio­nen unserer Redaktion rechnen die Länder mit Kosten von zehn Milliarden Euro pro Jahr für den Fall, dass ab 2025 ein Großteil der Eltern den Rechtsansp­ruch nutzen wird. „Bisherige Berechnung­en gehen von einer Nachfrage nach Ganztagspl­ätzen aus, die nicht berücksich­tigt, dass künftig bis zu 90 Prozent der Eltern einen Bedarf anmelden könnten“, erklärte KMK-Präsident Alexander Lorz dazu.

In diesem Fall würden die benötigten Kosten weit über den bisherigen Schätzunge­n liegen. „Die im Koalitions­vertrag zugesagte Unterstütz­ung des Bundes beim Ausbau der Ganztagsbe­treuung ist deutlich zu gering: Zwei Milliarden Euro bis 2021 reichen nach unseren Zahlen keinesfall­s aus.“Die Forderung der KMK: „Wenn die Länder und Kommunen ab 2025 den Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung in der Grundschul­e erfüllen sollen, muss sich der Bund anstelle einer Einmalzahl­ung auch über das Jahr 2021 hinaus an den Kosten beteiligen“, so Lorz. „Andernfall­s können die Länder nicht garantiere­n, dass alle Eltern, die einen Platz beanspruch­en, auch einen Platz bekommen.“

Neben dem Geld kommt noch ein anderes Problem dazu: Deutschlan­d ist beim Ganztag ein Flickentep­pich. Die Angebote unterschei­den sich stark voneinande­r in Bezug auf Verbindlic­hkeit, Betreuungs­zeiten, Nachfrage und Finanzieru­ng. In Städten wie Hamburg und Berlin, aber auch in den ostdeutsch­en Ländern gibt es bereits ein großes Angebot – anderswo dagegen fühlen sich viele Eltern mit der Betreuung alleingela­ssen.

Und schließlic­h ist da noch die Frage des Personals: Vollkommen unklar ist bislang, woher die zusätzlich benötigten Lehrer und Erzieher kommen sollen – schon jetzt herrscht Mangel.

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