Von der Problemstelle zur Komfortzone
Für die Außenverteidiger-Positionen gab es beim DFB-Team zuletzt wenig Spezialisten. Mittlerweile gibt es genügend Auswahl
Es ist nicht genau zu hören, was Thilo Kehrer sagt, aber sein Satz scheint gut anzukommen: Die Kollegen der Nationalmannschaft grinsen, als sie gemeinsam zurückradeln vom Stadion De Koel zum Hotel. Kehrer, das zeigt nicht nur diese Szene, ist mittendrin statt nur dabei in Venlo, wo sich das DFB-Team vorbereitet auf das EM-Qualifikationsspiel in Weißrussland am Samstag (20.45 Uhr/RTL). Überraschend ist das nicht mehr, bemerkenswert aber allemal.
Der frühere Schalker dürfte als 1996er-Jahrgang noch für die U21 spielen, Bundestrainer Joachim Löw aber mag nicht mehr auf ihn verzichten. Denn Kehrer gehört als Abwehrspieler zu einem Mannschaftsteil, in dem vieles in Bewegung ist. Die Platzhirsche Jerome Boateng und Mats Hummels wurden aussortiert, neue Strukturen und Hierarchien müssen sich noch finden. Kehrers Vorteil: Der gelernte Innenverteidiger ist vielseitig verwendbar, kann auch die Außenpositionen seriös besetzen – nicht zuletzt deswegen war er dem französischen Meister Paris Saint-Germain vor einem Jahr 37 Millionen Euro wert.
„Es gibt viele Möglichkeiten, da wir auch verschiedene Systeme spielen können“, sagt der 22Jährige über seine Wunschposition und Einsatzchancen. „Ich versuche, mich von der stärksten Seite zu zeigen.“Und dadurch trägt er ganz nebenbei dazu bei, Bundestrainer Joachim Löw eine Sorge zu nehmen, die diesen jahrelang plagte. Er hatte zwar immer Philipp Lahm, aber nicht einmal der wohl beste Außenverteidiger seiner Zeit konnte beide Seiten gleichzeitig besetzen – und klonen ließ er sich dummerweise auch nicht.
Löw probierte vieles aus, war mit wenigem zufrieden und ließ sich das auch anmerken: Er könne sich halt keinen besseren schnitzen, deswegen müsse er eben mit diesem Marcel Schmelzer arbeiten, erklärte er öffentlich, als der Dortmunder offiziell noch Nationalspieler war. Jetzt hat der Bundestrainer eine ganze Reihe an Spezialisten: den Neu-Dortmunder Nico Schulz, Joshua Kimmich, Jonas Hector oder den Berliner Marvin Plattenhardt, der dieses Mal nicht dabei ist. Und er hat die Spieler vom Typ Kehrer, die innen und außen verwendbar sind: Matthias Ginter, Marcel Halstenberg und Lukas Klostermann gehören dazu. Die einstige Problemist zur Komfortzone geworden.
Bei der Weltmeisterschaft 2014 noch griff Löw in seiner Not außen auf Benedikt Höwedes und Shkodran Mustafi zurück. Zwei kernige Zweikämpfer, aber mit dem Ball recht limitiert. Der Fußball hat sich seitdem rasant weiterentwickelt, die neue Generation Abwehrspieler ist deutlich besser ausgebildet: Kehrer kann das Spiel mit beiden Füßen sicher eröffnen, dazu ist er schnell und geschmeidig – und weder kleiner noch schmächtiger als die Innenverteidiger älterer Schule.