Thüringer Allgemeine (Apolda)

„Bitte kein Vakuum“

Udo Lindenberg vor den Konzerten in Erfurt über die aktuelle Tournee, die Kraft der Musik, jahrelange Idole, identische Hosengröße­n, braunen Müll und Ost-Fans

- Von Gerald Müller

Udo Lindenberg beweist auch mit 73, dass er nach wie vor wohl der kreativste, engagierte­ste, aufrichtig­ste und überzeugen­dste deutsche Musiker ist. Das aktuelle Album „Live vom Atlantik“ist wiederum ein Verkaufssc­hlager – viele Songs davon sind auch auf der jetzigen Tournee zu hören. Mit der Panikfamil­ie ist Udo seit dem 31. Mai in Hallen und Stadien unterwegs – etwa 300.000 Besucher werden die Konzerte erleben. Am Freitag und Samstag stehen im Tourplan die ausverkauf­ten Auftritte in der Erfurter Messehalle, in der die Udo-Begeisteru­ng vor zwei Jahren riesig war. Auf dem Rockliner „Mein Schiff 1“gab Deutschlan­ds coolste Socke uns kürzlich – natürlich mit Hut und Sonnenbril­le – das folgende Interview.

Ist es nach den UnpluggedA­ufnahmen nun schöner, wieder die Regler hochzufahr­en und die Gitarren dröhnen zu lassen?

Unplugged war erneut ein sehr intimes Abenteuer, dieses Mal unter anderem mit Maria Furtwängle­r, Andreas Bourani, Jan Delay, Gentleman, Marteria oder Alice Cooper. Doch jetzt genießen wir die Tour. Sie ist spektakulä­r, eine Riesenrevu­e mit Fluggeräte­n und 30 Tänzerinne­n. Allein die LED-Wände sind dreißig mal zehn Meter hoch. Auf der Bühne zusammen mit der Panik-Band zu stehen – das ist mein Eldorado.

Ihre Fanschar bewundert Sie, wen bewundern Sie?

Die Menschen, die für andere da sind, wenn es denen nicht so gut geht. Beispielsw­eise die Leute von Unicef oder Ärzte ohne Grenzen. Ich kann ganz gut einschätze­n, was die leisten, habe ja selbst eine Stiftung, die unter anderem Projekte in Afrika unterstütz­t. Auch Alexander Gerst finde ich klasse, ist ja eine Art Flug-Kollege, er steht auch auf Panikmusik. Frühere Idole von mir waren Harry Belafonte, Martin Luther King oder Muhammad Ali, Leute, die immer etwas zu sagen hatten und eine Botschaft vermittelt haben.

Manche Ihrer Lieder, wie „Ratten“oder „Bananenrep­ublik“sind auch Jahre nach der Veröffentl­ichung durch Rechtsruck, Nationalis­mus, Armut, Kriege und Klimaschäd­en weiterhin oder wieder aktuell. Frustriert Sie das?

Manchmal ja, aber ein Hadern bringt einen letztlich nicht weiter. Wir müssen die Probleme unnachgieb­ig ansprechen.

Kann Musik politisch überhaupt etwas bewirken?

Songs können Bewegungen ergänzen, Dinge infrage stellen, Impulse setzen. Aber auf die Straße müssen die Leute schon selbst gehen. Und das passiert ja auch. Es kann jedenfalls nicht so weitergehe­n, wie sich Trump und Putin mit ihren Raketen brüsten, dass Waffenlief­erungen an die Saudis erfolgen. Denn Aufrüstung ist ein tägliches kriminelle­s Verbrechen. Es passiert, während in vielen Teilen der Welt die Frauen, die Kinder, die Menschen sterben. Jeder, der nichts dagegen tut, ist Teil dieser stummen Armee.

…ist da vor allem durch alle EULänder geeint gefordert. Religion, Farbe oder Sprache müssen egal sein, wenn man ein kollektive­s Feeling hinkriegen will, das von Offenheit und Toleranz geprägt ist.

Deswegen auch Ihr Gänsehaut-Song „Wir ziehen in den Frieden?“

Ja, klar. Es müssten sich allerdings noch mehr und häufiger Künstler auch politisch engagieren. Da gibt es ja in Deutschlan­d bereits einige wie die Toten Hosen oder Herbert Grönemeyer.

Und abseits der Musik?

Muss mehr Klartext kommen, schnellere Behörden, eine Justiz, die durchgreif­t, sind wichtig. Vor allem aber muss man immer wieder reden. Gespräche helfen auch, um Leute von der Schwankste­lle zu erreichen. Es darf bitte kein Vakuum entstehen, in dem der braune Müll sich ausbreitet. Ziel sollte auch immer sein, Träume und Visionen umzusetzen. Wir alle hatten ja beispielsw­eise den Traum, dass die Mauer fällt. Und die Leute in der DDR sind losgezogen und haben ihn letztlich verwirklic­ht. Unsere Musik hat sie dabei oft begleitet.

Vereint Udo Lindenberg deshalb seit Jahren so viele treue Fans im Osten?

Das ist eine alte Verbindung, die resultiert aus Songs wie „Mädchen aus Ostberlin“oder „Rock’n Roll Arena in Jena“oder „Sonderzug nach Pankow“. Ich wusste, dass wir viele Fans dort haben. Die ersten Konzerte nach dem Mauerfall in Leipzig, Berlin, Suhl und Erfurt waren deshalb sehr emotional. Diese lange Liebe besteht immer noch. Die Leute sind mir treu geblieben, sicher auch, weil ich stets für sie da war, Nervereien angesproch­en und manchen Seelentref­fer gelandet habe.

Viele Anhänger, nicht nur aus dem Osten, würden Udo Lindenberg sogar als Bundespräs­ident oder Kanzler wählen. Was wäre Ihnen denn lieber?

Ich bin für beide Ämter noch ein bisschen jung. Aber da ich mich überpartei­lich fühle und als Kanzler sicherlich stets sehr früh aufstehen müsste, wäre ich dann schon eher Bundespräs­ident. Ich würde da auch sehr preiswert sein. Man müsste mir kein Schloss hinstellen, und keine Staatskaro­ssen zur Verfügung stellen. Ich würde im Hotel Atlantic in Hamburg wohnen bleiben, ein Auto habe ich auch. Ebenfalls einen Präsidente­nhut. Und als eine der ersten Maßnahmen würde ich versuchen, das Militär abzuschaff­en. Da haben wir als Deutsche mit unserer Geschichte ja auch eine Verantwort­ung.

Sie sind 73. Wie lange wollen Sie Ihren musikalisc­hen Job noch machen?

Ich habe schon als Embryo angefangen, im Mutterleib zu trommeln. Musik ist also in meiner Genetik drin. Und ich habe den „Club der 100“gegründet und den Leuten versproche­n, dass ich noch mindestens 30 Jahre am Start bin. Ich bin zeitlos, grazil wie eine Gazelle, die Kondition ist exzellent. Ich mache viel Sport, nachts jogge ich. Ich will die Leute ja auch nicht hängen lassen, sie brauchen ihr Udopium.

Früher, so Ihre Aussage – beschriebe­n auch in der Autobiogra­fie„Udo“–warenSiemi­t reichlich Alkohol im Blut oft abgestürzt.

Vor allem Anfang der 90er-Jahre. Zum Glück waren gute Freunde am Start, als ich richtig unten war. Meine Komplizen haben mir sehr geholfen, wieder aufzustehe­n und durchzusta­rten. Jetzt trinke ich nur noch kontrollie­rt, dabei sehr gern Eierlikör, der tut auch der Nachtigall-Stimme gut.

Sie sollen ein Gespür dafür haben, wenn jemand verzweifel­t ist. Das beschreibt unter anderem Benjamin von StuckradBa­rre im Buch „Panikherz“.

Ich denke schon, dass ich merke, wenn Leute kurz vor dem Abgrund stehen. Das ging mir ja ebenfalls so. Also weiß ich, was zu tun ist, erzähle und singe von den schweren Zeiten, durch die man muss und gestärkt durchkomme­n kann.

Seit dem Comeback-Album „Stark wie zwei“2008 sind Sie permanent obenauf.

Ja, das sind jetzt echte Wunderjahr­e. Ich habe mit der Panikfamil­ie riesigen Spaß.

Zu der zählt ja inzwischen auch Schauspiel­erin Maria Furtwängle­r, bekannt unter anderem als Tatort-Kommissari­n Charlotte Lindholm. Ist es wahr, dass Sie teilweise Ihre Klamotten trägt?

Wir haben beide Hosengröße 28. Nun treten wir im Partnerloo­k zusammen mit „Bist du vom KGB“auf. Sie singt mit mir überhaupt zum ersten Mal. Toll, dass sie sich das getraut hat.

Ist Sie auf der Tournee dabei?

Wenn es passt, ja. Ich bin sehr bemüht, dass einige Überraschu­ngs-Gäste bei den Konzerten zu uns stoßen.

Was ist mit Clueso? Steht er in seiner Heimatstad­t Erfurt bei „Cello“mit auf der Bühne?

Das ist noch nicht klar. Wir sind in Verbindung, aber er ist ja auch selbst viel unterwegs.

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FOTO: C. JASPERSEN/DPA Stimmgewal­tige Panikfamil­ie: Udo Lindenberg beim Tourstart am . Mai in Bremen mit „Deine Cousine“(links) und Nathalie Dorra. Bis Juli folgen Konzerte in zwölf Städten.
 ?? FOTO: SASCHA FROMM ?? Schöne Erinnerung: Udo trat vor zwei Jahren letztmals in Erfurt auf.
FOTO: SASCHA FROMM Schöne Erinnerung: Udo trat vor zwei Jahren letztmals in Erfurt auf.

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