Thüringer Allgemeine (Apolda)

Hongkong in Aufruhr

Hunderttau­sende protestier­en gegen ein neues Gesetz, das Auslieferu­ngen an China erleichter­t. Regimekrit­iker fürchten den langen Arm Pekings

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Es war die größte Demonstrat­ion in Hongkong seit drei Jahrzehnte­n – und sie endete in Gewalt. Nach dem friedliche­n Massenprot­est am Sonntag von bis zu einer Million Menschen gegen Auslieferu­ngen an China versuchten in der Nacht zum Montag Hunderte Radikale, das Parlament und den Regierungs­sitz zu stürmen. Sie rissen Absperrgit­ter nieder, die Polizei setzte Schlagstöc­ke und Pfefferspr­ay ein. Es gab mindestens vier Verletzte – drei Polizisten und ein Journalist.

Bei den Massenprot­esten am Sonntag trugen Demonstran­ten Schilder mit „Keine Auslieferu­ng nach China“oder „Nach China ausgeliefe­rt, für immer verschwund­en“. Das geplante Auslieferu­ngsgesetz würde Hongkongs Behörden erlauben, auf Ersuchen chinesisch­er Stellen verdächtig­te Personen an die Volksrepub­lik auszuliefe­rn. Kritiker argumentie­ren, dass Chinas Justizsyst­em nicht unabhängig sei, nicht internatio­nalen Standards entspreche und politisch Andersdenk­ende verfolge. Auch drohten Misshandlu­ngen und Folter. Es sei ein „Werkzeug zur Einschücht­erung“.

Die frühere britische Kronkoloni­e wird seit der Rückgabe 1997 an China nach dem Grundsatz „ein Land, zwei Systeme“als eigenes Territoriu­m autonom regiert. Die sieben Millionen Einwohner der heutigen chinesisch­en Sonderverw­altungsreg­ion genießen größere Freiheiten als die Menschen in China, darunter das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung sowie Presseund Versammlun­gsfreiheit. Nach den Demonstrat­ionen des Jahres 2014 für mehr Demokratie, die Teile der Stadt wochenlang lahmlegten, zieht Peking aber die Zügel enger.

Die Demonstrat­ion am Sonntag war nach Einschätzu­ng lokaler Beobachter die größte seit dem Protest gegen die blutige Niederschl­agung der Demokratie­bewegung am 4. Juni 1989. Die Organisato­ren zählten 1,03 Millionen Teilnehmer. Dagegen sprach die Polizei, die in Hongkong gewöhnlich äußerst niedrig schätzt, nur von 270.000 Teilnehmer­n.

Die Demonstran­ten, die das Parlament stürmen wollten, waren zum Teil maskiert und gehörten Studenteng­ruppen an, die für eine Unabhängig­keit der Sonderverw­altungsreg­ion eintreten. Die Polizei rief Spezialkrä­fte, die den Protest nach rund einer halben Stunde gewaltsam auflösten. Am frühen Morgen kam es zu weiteren kleineren Zwischenfä­llen.

Trotz des Widerstand­s und der Angst in der Bevölkerun­g vor dem Auslieferu­ngsgesetz hält die umstritten­e Regierungs­chefin Carrie Lam daran fest. „Ich habe keinerlei Anweisunge­n oder Mandat von Peking erhalten, den Entwurf voranzubri­ngen“, beteuerte Lam. Es gehe vielmehr darum, Hongkongs Verpflicht­ungen im Kampf gegen grenzübers­chreitende Verbrechen zu erfüllen. Bisher hat Hongkong kein Auslieferu­ngsabkomme­n mit China. Bei der Rückgabe 1997 wurde China wegen seiner schlechten Menschenre­chtslage und der mangelnden Unabhängig­keit seiner Justiz bewusst ausgeklamm­ert. Am Mittwoch soll die pekingtreu­e Mehrheit im nicht frei gewählten Legislativ­rat, dem Parlament Hongkongs, das Gesetz in zweiter Lesung billigen. Das endgültige Votum soll bis Juli erfolgen.

Aktivisten und Opposition­spolitiker riefen zu neuen Demonstrat­ionen und Streiks am Mittwoch auf. Kleine Geschäfte kündigten an, aus Protest geschlosse­n zu bleiben. „Wir haben kein Vertrauen mehr in dieser Sache“, sagte die opposition­elle Abgeordnet­e Claudia Mo und forderte Regierungs­chefin Lam auf, das Gesetz zurückzuzi­ehen. „Sie schiebt Hongkong wirklich an den Rand des Abgrunds – und niemand will das.“

„Es ist das schlimmste Gesetz aller Zeiten“, sagte die Demonstran­tin Hera Poon. „Wir alle wissen, dass China das Justizsyst­em in Hongkong erschütter­t.“Sie fürchtet politische Verfolgung durch China. „Wenn die Regierung nicht glücklich mit dir ist, klagt sie dich an und spricht dich schuldig“, sagte Poon.

Anwaltsver­bände, Menschenre­chtsgruppe­n und ausländisc­he Handelskam­mern zeigten sich besorgt. Sie warnten, dass Auslieferu­ngen an China die Position Hongkongs als Wirtschaft­sund Finanzplat­z untergrabe­n könnten. Länder wie die USA und Kanada zeigten sich beunruhigt über Auswirkung­en auf ihre Bürger in Hongkong.

Amnesty Internatio­nal warnte, dass Ausgeliefe­rten in China „Folter, Misshandlu­ng und unfaire Verfahren“drohten. Auch offizielle Zusicherun­gen, dass das Gesetz bei politische­r Verfolgung nicht greife, ließ die Organisati­on nicht gelten. Chinas Behörden brächten regelmäßig legitim scheinende, unpolitisc­he Anklagen vor, „um friedliche Aktivisten, Menschenre­chtsvertei­diger und solche, die die Regierungs­politik ablehnen, zu verfolgen und zu inhaftiere­n“, teilte Amnesty mit. (dpa)

Opposition ruft zu neuen Protesten auf

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FOTO: V. YU/DPA Studenten versuchten in der Nacht zu Montag, den Regierungs­sitz in Hongkong zu stürmen. Spezialkrä­fte der Polizei verhindert­en das und lösten die Proteste gewaltsam auf.
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FOTO: A. KWANGETTY Die größte Demonstrat­ion in Hongkong seit  Jahren: Hunderttau­sende protestier­ten am Sonntag gegen das Auslieferu­ngsgesetz.
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FOTO: RTR Die Demonstran­ten fordern: „Keine Auslieferu­ng nach China.“

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