Thüringer Allgemeine (Apolda)

Nach der EU-Wahl ist vor der Landtagswa­hl

TV-Talk „Am Anger“: Diskussion­srunde über das unterschie­dliche Wahlverhal­ten der Thüringer und den Umgang mit dem wachsenden Zuspruch für die AfD

- Von Hanno Müller

Die großen Volksparte­ien haben bei der EU-Wahl Stimmen verloren, die Grünen gewannen dazu. Was heißt das für die Landtagswa­hl 2019 in Thüringen? Zwischen den Wahlen stehe Thüringen auch zwischen den Extremen von Links bis Rechts, sagt Hermann Binkert vom Meinungsfo­rschungsin­stitut Insa-Consulere, dass für diese Zeitung gerade die politische Stimmung im Land erfragt hat. Die gleichen Menschen, die bei der Europawahl ihr Kreuz bei CDU oder AfD setzten, hätten bei den Befragunge­n angegeben, dass sie bei der Landtagswa­hl im Herbst die Linke wählen würden. Eindeutige Zuschreibu­ngen seien kaum möglich.

Mit Hermann Binkert diskutiere­n beim TV-Talk „Am Anger“Matthias Quent vom Institut für Demokratie und Zivilgesel­lschaft der Uni Jena und die Moderatore­n Jan Hollitzer, Chefredakt­eur der Thüringer Allgemeine­n, sowie Klaus-Dieter Böhm, Geschäftsf­ührer von Salve TV, über Hintergrün­de und Konsequenz­en von Wählerents­cheidungen in Thüringen. Trotz hoher Zufriedenh­eitswerte von 81 Prozent pendele das Wahlverhal­ten vielfach zwischen den politische­n Polen. Bei vielen AfD-Wählern gebe es ein Gefühl der Benachteil­igung, sagt Matthias Quent. Im Vergleich mit anderen fühlten sich Ostdeutsch­e als Menschen zweiter Klasse. Man sei zwar zufrieden, habe aber große Befürchtun­gen in die Zukunft. Der Glaube, die Krise nur durch einen Systemstur­z abmildern zu können, werde durch AfD-Größen wie Björn Höcke geschürt.

Der Annahme, die AfD profitiere von Protestwäh­lern, die davon ausgehen, dass die Populisten ja eh nicht an die Macht kommen, widerspric­ht Hermann Binkert. Die Mehrheit der Wähler erwarte, dass ihre Partei auch bereit ist, Regierungs­verantwort­ung zu übernehmen. Matthias Quent warnt davor, Protestwäh­ler nicht ernst zu nehmen. Man müsse genau hinschauen, wogegen sie protestier­en. Eine Stimme für die AfD bei der Europawahl sei auch eine Stimme gegen die europäisch­e Integratio­n und gegen die Globalisie­rung. Parteien seien Projektion­sflächen für Ressentime­nts und Unzufriede­nheit. Hinsichtli­ch der politische­n Inhalte und Konsequenz­en seien feine Unterschie­de schwer zu erfassen, was das Hervorrufe­n von Kritik und Irritation­en erleichter­e. So fordere die AfD zwar nicht den Dexit, sie wolle aber mit anderen Nationalis­ten die EU von Innen heraus demontiere­n.

Was aber bringt Wechselwäh­ler dazu, sich für eine bestimmte andere Partei zu entscheide­n? Nach der jüngsten Meinungsum­frage von Insa-Consulere hat die AfD relatives großes Potenzial bei linken Wählern – und andersheru­m. Hermann Binkert relativier­t jedoch: Das AfD-Potenzial sei das geringste von allen Parteien. Rechnerisc­h komme die Partei auf 17 Prozent sichere und weitere 3 Prozent potenziell­e Wähler. Die Linke habe etwas mehr Potenzial als die CDU, sehr großes Potenzial in Thüringen hätten die Grünen. TA-Chefredakt­eur und Moderator Jan Hollitzer beschäftig­en die großen regionalen Unterschie­de im kleinen Land Thüringen. Jena habe vor allem Grün, der Landkreis Gotha SPD, Gera zu gut einem Drittel AfD gewählt. Matthias Quent verweist diesbezügl­ich auf zwei politikwis­senschaftl­iche Ansätze: Sozioökono­misch seien radikale und populistis­che Kräfte da eher schwächer, wo die wirtschaft­liche Lage der Menschen und der Region überwiegen­d gut ist. Kulturell müsse man zudem schauen, wie stark in einer Region autoritäre, rassistisc­he und rechtsradi­kale Denkstrukt­uren Teil der Normalität sind. Hinsichtli­ch beider Ansätze sehe man große Differenze­n etwa zwischen der jungen Stadt Jena auf der einen und Gera mit einer langen Tradition von rechtsextr­emen Ereignisse­n auf der anderen Seite. Erklärunge­n, die einen der Aspekt sähen, griffen zu kurz. Politische Polarisier­ungen gebe es nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch innerhalb Thüringens.

Wie aber umgehen mit AfDWählern? „Nicht alle sind Rechtsradi­kale. Aber die AfD ist eine rechtsradi­kale Partei. Wenn man AfD wählt, muss man wissen, dass man eine rechtsradi­kale Partei wählt, insbesonde­re in Thüringen“, sagt Matthias Quent. Zwar zeigten Studien, dass viele Wähler nicht mit Björn Höcke einverstan­den sind. Trotzdem sei eine AfDStimme letztlich eine HöckeStimm­e. Aus dem ThüringenM­onitor wisse man, dass der Anteil rechtsextr­em eingestell­ter Personen etwa so hoch ist wie der Wählerante­il der AfD.

Hermann Binkert warnt davor, jedem, der Mitte-RechtsPosi­tionen vertritt, mit der Nazikeule zu kommen. „Ich habe Angst, dass dies zu einer Bagatellis­ierung der Begrifflic­hkeit führt und man dann nicht mehr unterschei­den kann, was wirklich echt nationalso­zialistisc­hes Gedankengu­t ist“, sagt Binkert. In Umfragen sähen AfD-Wähler sich selbst gemäßigter als die Partei, die sie wählen. Insgesamt schätze sich die Mehrheit der Wähler allerdings entweder links oder rechts der Mitte ein. „Wähler erwarten, dass Parteien Orientieru­ng geben“, sagt Binkert und erinnert an Zeiten, als sich die großen Parteien stritten und so gemäß Verfassung­sauftrag zur politische­n Willensbil­dung beigetrage­n hätten.

Im Folgenden geht es um die Nichtwähle­r. Durch die jahrelang sinkende Wahlbeteil­igung seien die Parteien eigentlich zu Scheinries­en geworden. Die Prozente stimmten noch, der Anteil der Wähler aber sei immer weiter gesunken. Parteien verlieren nicht zuerst an die Wettbewerb­er, sondern zunächst an die Nichtwähle­r, stellt Hermann Binkert fest. Die AfD schöpfe vor allem aus diesem Reservoire. Laut Matthias Quent ist das Lager der Nichtwähle­r vor allem dort besonders groß, wo die soziale Lage besonders schwierig und die Arbeitslos­igkeit hoch ist. „Auf der RechtsLink­s-Skala ist das schwer einzuordne­n, aber man kann es sozial festmachen. Diejenigen, die sozial ausgeschlo­ssen sind und deren Interessen nicht vertreten werden, gehen auch besonders selten wählen“, so Quent.

Regionale Unterschie­de im Wahlverhal­ten

Ist die SPD noch zu retten?

Und dann ist da natürlich auch noch das Dilemma der SPD. Was kann sie retten, fragt Moderator Klaus-Dieter Böhm? Die neue führende Partei im Mitte-Links-Lager seien die Grünen, sagt Hermann Binkert. Das habe die SPD zugelassen. Seiner Meinung war ein Fehler, noch einmal in einer großen Koalition mitzumache­n. Aus diesem Dilemma wieder herauszuko­mmen, werde schwierig , zumal es mit den Grünen eine Alternativ­e im eigenen Lager gebe, die zudem das Potenzial habe, zusätzlich Stimmen aus dem Umfeld dazu zu gewinnen. Nun aufzugeben, sei aber sicher keine Option. Allerdings frage er sich, ob sich die SPD in Thüringen aufgebe, indem sie auf einen eigenen Spitzenkan­didat für das Ministerpr­äsidentena­mt verzichtet.

Bleibt der SPD, um künftig weiter mitreden zu können, damit vor allem die Konstellat­ion Rot-Rot-Grün, wie sie sich nach Thüringen nun möglicherw­eise auch in Bremen findet? „Das wird an Bedeutung gewinnen“, vermutet Matthias Quent. Für die Sozialdemo­kraten sei das nicht zuletzt attraktiv, um sich wieder mehr von der CDU in der Mitte abzugrenze­n. Auch Letztere müsse um ihre Existenz fürchten, wenn sie nicht auf Leute zugehe. Wie anfällig große Volksparte­ien selbst für kleine Störungen sind, habe der VideoBlogg­er Rezo gezeigt.

Eine Herausford­erung für die Zukunft sehen beide Experten in den Echoblasen, in denen sich immer mehr Menschen bewegen. Viele orientiert­en sich nur noch in ihren eigenen Netzwerken und bekämen nicht mehr mit, was andere denken, sagt Herman Binkert. Nach Meinung von Matthias Quent brauchen Themen wie die Klimaoder Digitalisi­erungskris­e den kontrovers­en, aber friedliche­n Streit. Politische Themen änderten sich. 2015/2016 habe es die Migrations­debatte für die AfD gegeben, inzwischen werde dies von anderen Themen überlappt. Durch die sozialen Netzwerke würden Informatio­nsprozesse beschleuni­gt, daraus ergäben sich neben Risiken auch Chancen. Einstellen müsse man sich auch auf eine weitere Fragmentie­rung des Parteiensp­ektrums, „wer weiß, was da noch kommt“, so der Jenaer Quent.

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FOTO: SASCHA FROMM Hermann Binkert, Insa-Consulere, und Matthias Quent, Institut für Demokratie jena.
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