Der letzte Sozi in Bellevue?
Frank-Walter Steinmeier hat bald Halbzeit – was treibt ihn an? Und wie würde er auf ein Groko-Ende reagieren?
Der Bundespräsident muss den Kopf weit in den Nacken legen, um die gefesselte Frau zu sehen, die von der Decke hängt. Drei schnelle Drehungen am Hanfseil und die Artistin winkt dem Staatsoberhaupt lächelnd zu. Ein Abend in einer Scheune in Fahrenwalde, Vorpommern. Auf Schloss Bröllin, das Berliner Künstler nach der Wende zu einem Geheimtipp für Performance-, Tanz- und Theater-Kompanien machten, schaut Frank-Walter Steinmeier zum Abschluss seiner Tour „Land in Sicht – Zukunft ländlicher Räume“vorbei. Er war im Bayerischen Wald, in der Uckermark, der Lausitz, der Südwestpfalz, in Nordthüringen und Ostfriesland. Überall hörte er ähnliche Sorgen: Abends fährt kein Bus, der nächste Arzt ist weit, die Mieten steigen. Und „die da oben“in Berlin oder den Landeshauptstädten kümmerten sich angeblich nur um die Probleme der Städter.
Die Europawahl unterstrich noch einmal, dass etwas in der Republik ins Rutschen geraten könnte. West wählt anders als Ost, Stadt gegen Land, Arm gegen Reich, Alt gegen Jung. Im Westen und in den Metropolen ist der Zeitgeist klima-grün, im Osten protest-blau. Die AfD lag in Sachsen und Brandenburg vorn, in „Meck-Pomm“kam sie auf Platz zwei. Die Volksparteien sind unter Druck wie nie zuvor. Hält die große Koalition noch bis Weihnachten? Viele blicken auf den ersten Mann im Staate. Steinmeier ist so etwas wie der Vater der Groko. Er nahm die SPD nach dem Scheitern der Jamaika-Koalition in die Pflicht, es noch mal zu versuchen. Bald ist der Bundespräsident zweieinhalb Jahre im Amt. Halbzeit. Was hat er erreicht? Wie steht er zu Neuwahlen?
Bevor Steinmeier der Entfesselungskünstlerin applaudiert, sitzt er mit den Leuten vom Trägerverein zusammen. Die übernahmen das Schloss vor 30 Jahren für 30.000 Euro. Im Winter füllen sie Förderanträge aus, um Geld für Reparaturen reinzuholen. Die AfD, im Kreistag zweitstärkste Kraft, macht den Künstlern Angst. Die Rechtspopulisten wollen Schloss Bröllin den Geldhahn zudrehen. Steinmeier hört aufmerksam zu. Der 63-Jährige wurde als Landei geboren. Brakelsiek im nordrhein-westfälischen Lippe, 800 Seelen. Vater Tischler, Mutter Fabrikarbeiterin. Er weiß, was in der Provinz los ist. Steinmeier prangert ein Auseinanderdriften von Stadt und Land an. Mehr als die Hälfte der Deutschen lebe auf dem Land. Es sei fahrlässig, von abgehängten Räumen zu sprechen. „Abgehängt klingt wie Schicksal, klingt so, als könne man daran nichts ändern.“
Wenn man Steinmeier begleitet, spürt man, dass da einer mit sich im Reinen ist. Das liegt auch an seiner Frau. Elke Büdenbender ist eine empathische Verwaltungsrichterin und Feministin. Für dieses Amt ist sie fast ebenso wertvoll wie er. Oft bringt sie einen besonderen Blick mit ein, hat andere Zugänge als er.
Steinmeier war die meiste Zeit seiner Laufbahn rastlos. Nach dem höchsten Amt drängte es ihn nicht mit jeder Faser. Dafür war er zu gern Chefdiplomat. Ein Sozialdemokrat, der ihn gut kennt, meint, Steinmeier mache als Bundespräsident einen hervorragenden Job. „Aber ich glaube, er ist ein wenig unterfordert.“ Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident
Andere glaubten, Schröders Mann fürs Grobe, der Architekt der Hartz-Arbeitsmarktreformen, sei ein zu dröger Nachfolger für Joachim Gauck, den pathetischen Pfarrer aus Rostock. Steinmeier erwies sich als guter Griff. Als 2017 nach der Bundestagswahl die Jamaika-Koalition platzte, weil Herrn Lindner von der FDP der Frack sauste, saß ein Profi im Schloss, der für stabile Verhältnisse sorgte. Steinmeier bearbeitete seine Genossen, es noch mal mit der großen Koalition zu versuchen. Jetzt wirkt es fast tragisch, dass ein Sozialdemokrat mit jene Weiche stellte, die die SPD auf ein totes Gleis gelenkt hat. Hätte Steinmeier es besser wissen und verhindern müssen, dass die Groko den Niedergang der Volksparteien beschleunigt? „Ich habe schlicht und einfach die Verfassungslage erläutert“, sagte er im Rückblick. CDU, CSU und SPD hatten und haben im Bundestag eine komfortable Mehrheit. Dass die Groko sich in Windeseile selbst demontierte, kann man ihm nicht anlasten. Es war Horst Seehofer, der den selbstzerstörerischen Streit zwischen CSU und CDU zur Flüchtlingspolitik anzettelte. Danach versagten Kanzlerin Merkel, Seehofer und Andrea Nahles in der Causa Maaßen. Nach dem Rücktritt von Nahles und dem Absturz bei der Europawahl spricht viel dafür, dass die gedemütigte SPD auf ihrem Parteitag im Dezember (oder früher) aus der Regierung aussteigen könnte. Was macht Steinmeier dann? Zunächst würde der Ball im Bundestag liegen. Angela Merkel könnte eine Minderheitsregierung wagen. Konstruktives Misstrauensvotum, Vertrauensfrage, das Grundgesetz hält viel bereit, bevor Steinmeier am Zuge wäre, um das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Nochmal würde er sich wohl nicht sperren.
Steinmeiers Amtszeit endet im Frühjahr 2022. Und dann? Noch mal fünf Jahre? Steinmeier wird parteiübergreifend geschätzt. Gewiss ist jedoch nichts. Hält das Grünen-Hoch, schrumpfen die Volksparteien, bleibt die AfD stark, verschiebt das die Gewichte in der Bundesversammlung, die den Präsidenten wählt. Und erstmals eine Frau an der Staatsspitze, wäre das nicht überfällig? Für Steinmeier spricht, dass er eine Bank ist. Seine Rede zum 9. November, als er im Bundestag an die Ausrufung der Republik vor 100 Jahren und den Untergang der Weimarer Republik erinnerte, war seine bisher stärkste. Dass die AfD die Farben SchwarzRot-Gold für sich reklamiert, führte er ad absurdum. Seit dem Hambacher Fest waren es die Farben der Freiheitsbewegung. „Wer heute Menschenrechte und Demokratie verächtlich macht, wer alten nationalistischen Hass wieder anfacht, der hat gewiss kein historisches Recht auf Schwarz-Rot-Gold!“
„Abgehängt klingt wie Schicksal, klingt so, als könne man daran nichts ändern.“
Bleibt nur Steinmeier als Spitzen-Sozi übrig?
Sicher, er könnte noch stärker zuspitzen, um Debatten anzustoßen. Auch die Institution Bundespräsident wird sich schneller der Digitalisierung stellen müssen. Seit Kurzem ist Steinmeier bei Instagram. Er hielt die Rede zur Eröffnung der Digitalmesse Republica. Warum nicht ein Klimaschutz-Podcast? Eine Generation politisiert sich aus Sorge um den Planeten in rasender Klickgeschwindigkeit. Auf diesem Feld blieben von Steinmeier nur Fotos hängen, die ihn in schwarz-gelber Outdoor-Kluft auf den GalapagosInseln zeigten. Dort warnte er vor Plastikmüll in den Meeren und dem Aussterben bedrohter Schildkröten. Im übertragenen Sinne droht genau das der SPD, der Steinmeier seine Karriere verdankt. Sollte die Sozialdemokratie nach der nächsten Wahl marginalisiert und nicht mehr Teil der Regierung sein, würde Steinmeier als einziger SpitzenSozi übrig bleiben. Als Letzter seiner Art.