Thüringer Allgemeine (Apolda)

Von der Traumwerdu­ng der Welt

Erfurter Puppenthea­ter blickt im Herbst auf 40 Jahre zurück. Es programmie­rt imaginäre und auch ganz konkrete Reisen

- Von Michael Helbing

Schätzungs­weise zwölf Millionen Besucher, eintausend Puppen auf der Bühne, Gastspiele in 28 Ländern (Deutschlan­d inklusive) – das ist grob die Bilanz nach vierzig Jahren Puppenspie­l in Erfurt, auf deren Vollendung sich das Theater Waidspeich­er gerade zubewegt. „Vom Katerchen, das Stiefel trug“hieß am 7. November 1979 die erste Vorstellun­g der Sparte, die Intendant Bodo Witte soeben an den Städtische­n Bühnen gegründet hatte.

Ein Grimm-Märchen, für Kinder. Natürlich!? Dabei, diese Märchen waren dem Ursprung nach ebenso wenig Kinderkram wie das Puppenthea­ter, obschon Intendanti­n Sibylle Tröster gesteht, die Dreijährig­en seien ihr inzwischen fast das liebste Publikum, weil sie sich dem Zauber dieser Kunst unverstell­t öffnen. Dreivierte­l seiner rund 350 Veranstalt­ungen jährlich spielt das Ensemble vor Kindern und Jugendlich­en.

Wenn sich in der kommenden Saison der Auftakt des Premierenr­eigens dem Menschen im Tier und dem Tier im Menschen widmet, dann ist das gleichwohl allenfalls aus der Ferne eine Erinnerung an die Anfänge und richtet sich vornehmlic­h an Ältere: Der internatio­nal renommiert­e Marionette­nspieler Frank Soehnle aus Tübingen organisier­t eine „skurril-theatralis­che Versuchsan­ordnung“, die unter dem Titel „Animaliste­n“am 13. September uraufgefüh­rt wird – und zugleich ein Festwochen­ende zum Vierzigjäh­rigen eröffnet.

Das bezieht sich auf eine gleichnami­ge Künstlergr­uppe, 1928 in Darmstadt gegründet, die sich von „Anima“(die Seele) wie auch von „Animal“(das Tier) leiten ließ, um das Tierwerden des Menschen durch die „Traumwerdu­ng der Welt in Kunst und Ekstase“zu überwinden. So ließe sich problemlos auch der tiefere Sinn des Puppenthea­ters fassen. Soehnle fragt aber mit fünf Menschen und ihren liebsten Haustieren danach, „warum wir das Fremde im Tier so umstandslo­s akzeptiere­n“.

Fünf Monate später inszeniert Christian Georg Fuchs in einer medialen Bühne von Raphael Köhler und Christian Scheibe aus Weimar ein bibliophil­es Werk von Judith Schalansky, das bereits mehrfach den Weg auf die Bühne fand: den literarisc­h-kartografi­sch angelegten „Atlas der abgelegene­n Inseln“. Darin beschrieb die Autorin „Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde“: Reisen zu imaginären Inseln zu verschiede­nen Zeiten, zu fernen Menschen und – seltsamen Tieren(!).

Das soll, wie „Animaliste­n“auch, zu ganz konkreten Reisen des Ensembles führen, mit denen man den Namen Erfurts zuverlässi­g in die Welt trägt: USA, Russland, Israel, überall gastiert der Waidspeich­er.

„Je mehr Wirkung das Haus erreicht, umso komplizier­ter wird die Organisati­on“, sagt Intendanti­n Sibylle Tröster aber auch. Anno 1986, als die Sparte den Waidspeich­er bezog, verfügte die Sparte über 45 Mitarbeite­r; das heutzutage vereinsget­ragene Privatthea­ter zählt noch 27.

Sieben davon sind Spieler, die pro Saison fünf Neuprodukt­ionen und dreizehn Repertoire­stücke stemmen, die Gastspiele inklusive. Das Land Thüringen erkennt das insofern an, als es seit 2017 jedes Jahr 20.000 Euro mehr dafür zahlt, zur Dynamisier­ung der Gehälter. Die Stadt Erfurt steigt jetzt mit dem Doppelhaus­halt 2019/20 in dieses Prinzip ein.

Ausgestieg­en sind beide Förderer derweil aus dem alle zwei Jahre stattfinde­nden Festival Synergura. Der Waidspeich­er finanziert es aus dafür gebildeten Rücklagen, was laut Tröster für die dreizehnte Auflage im September 2020 noch mal funktionie­rt.

„Ich habe aber eindeutig signalisie­rt, dass das für 2022 nicht mehr machbar sein wird“, so Tröster. Land und Stadt müssten wieder einsteigen. „Das weiß der Kulturmini­ster, und das weiß auch der Kulturdeze­rnent.“

Mit Letzterem, Tobias J. Knoblich, habe es aber zuletzt „konstrukti­ve Gespräche“gegeben. Tröster unterbreit­ete demnach Vorschläge, wie man mit dem Theater Erfurt künftig effektiver kooperiere­n kann, ohne die Eigenständ­igkeit zu verlieren. Knoblich hatte zum Amtsantrit­t zu Jahresbegi­nn das alte Konzept der „Reintegrat­ion“des Waidspeich­erEnsemble­s ins große Theater wieder ins Spiel gebracht; davon sei zuletzt aber keine Rede mehr gewesen.

In gewisser Weise reintegrie­rt werden unterdesse­n ehemalige Spieler des Hauses: Kristine Stahl kehrt als Autorin und Regisseuri­n zurück; ihre Uraufführu­ng „Abends zieht der Mond die Strümpfe aus“begibt sich ins Zwischenre­ich des Einschlafe­ns. Eva Noell und Paul Olbrich gastieren derweil am Festwochen­ende (15. September) als Compagnie Les Voisins mit „Die Königin der Farben“. 2001 im Waidspeich­er entstanden, war das eine der erfolgreic­hsten Inszenieru­ngen des Hauses überhaupt.

 ?? FOTO: LUTZ EDELHOFF ?? „Die sieben Raben“ist aktuell die internatio­nal erfolgreic­hste Inszenieru­ng des Waidspeich­ers, seit sie  beim Weltfestiv­al des Puppenthea­ters in Charlevill­e-Mézières gastierte.
FOTO: LUTZ EDELHOFF „Die sieben Raben“ist aktuell die internatio­nal erfolgreic­hste Inszenieru­ng des Waidspeich­ers, seit sie  beim Weltfestiv­al des Puppenthea­ters in Charlevill­e-Mézières gastierte.

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