Thüringer Allgemeine (Apolda)

Mit „Mütze“raus aus dem Chaos

Der vorläufige Chef der SPD-Bundestags­fraktion und Nahles-Nachfolger ist ein Politiker alter Schule – er schätzt Gespräche höher ein als Twitter

- Von Tim Braune

Der größte politische Erfolg von Rolf Mützenich ist in den Zeilen 7040 bis 7044 des Koalitions­vertrages zu finden. „Wir werden ab sofort keine Ausfuhren an Länder genehmigen, solange diese unmittelba­r am Jemen-Krieg beteiligt sind“, heißt es an dieser Stelle zu deutschen Waffenexpo­rten. Mit großer Beharrlich­keit hatte der SPD-Politiker im Frühjahr 2018 in den entscheide­nden Stunden der Koalitions­verhandlun­gen mit CDU und CSU diese Passage in das Vertragswe­rk eingeschle­ust.

Das hatte es noch nie gegeben. Deutschlan­d, viele Jahre unter den Top-5-Rüstungsex­porteuren auf dem Globus, verpflicht­ete sich, vor allem an Saudi-Arabien keine Waffen mehr zu liefern. Das sunnitisch­e Königshaus liefert sich im Jemen einen blutigen Stellvertr­eterkrieg mit dem schiitisch­en Iran. Zwar wurde dieses Verbot in der Praxis von der Bundesregi­erung erst nach dem aufsehener­regenden Mord an dem saudischen Journalist­en Jamal Kashoggi ernsthaft umgesetzt (ein Lieferstop­p gilt bis Ende September). Der Kölner Sozialdemo­krat erreichte mit großer Beharrlich­keit dennoch etwas, was selbst viele Fachleute nicht für möglich gehalten hätten. Werte und Haltung waren an diesem Punkt plötzlich wichtiger als Kommerz und die Interessen der einflussre­ichen Rüstungsin­dustrie.

Für Mützenich, den versierten Außenpolit­iker und Vizechef der SPD-Fraktion, hätten das jene fünf Minuten Ruhm bleiben können, der für Fachpoliti­ker aus der zweiten Reihe hin und wieder abfällt. Seit gut einer Woche steht der schmale Kölner, der in zwei Wochen 60 wird, plötzlich ganz vorne. Als Andrea Nahles am vorvergang­enen Sonntag nach einem harten Machtkampf in der Fraktion keinen Rückhalt mehr spürte und von allen Ämtern zurücktrat, wünschte sie sich, dass Mützenich vorläufig die 152-köpfige Bundestags­mannschaft anführt. Als der Stellvertr­eter mit den meisten Dienstjahr­en hatte er Nahles häufiger vertreten. Vor der neuen Aufgabe hat er Respekt: „Es ist schon eine bedeutungs­volle Aufgabe, in große Fußstapfen getreten zu sein.“Als einer der ganz wenigen Genossen aus der Fraktion fand der pragmatisc­he Parteilink­e nach den Chaostagen öffentlich mitfühlend­e Worte für Nahles.

Mützenich war entsetzt, als er davon erfuhr, dass Reporter vor Nahles’ Bauernhaus in der Eifel auf der Lauer lagen, um Fotos von der Ex-SPD-Spitzenfra­u und ihrer kleinen Tochter zu bekommen. Anstand, Freundlich­keit, Vertraulic­hkeit sind für ihn Werte, die er im Highspeed-Politikbet­rieb hochhält. So blieb er cool, als er dieser Tage seinen ersten Shitstorm abbekam, weil er nicht im Kurznachri­chtendiens­t Twitter aktiv ist. „Ich hab’ überhaupt kein Problem mit sozialen Medien“, sagte er. Wer ihm seine Meinung mitteilen wolle, solle sich persönlich melden: „Entweder mündlich oder schriftlic­h. Ist auch mal nicht schlecht, dass man sich an den PC setzt und Gedanken konzentrie­rt vorträgt.“Mützenich stellt die Substanz dessen, was bei Twitter zu lesen ist, infrage: „Ich bin jemand, der zumindest der Auffassung ist, dass meine Meinung, wenn ich sie ins Netz stelle, auch nicht unbedingt jeden interessie­rt.“

Nachdem Youtuber Rezo mit seinem Klima-Video die politische Klasse durcheinan­dergewirbe­lt hat, sind das mutige Sätze. Gerade für einen aus der SPD, die es seit Jahren allen recht machen will und dadurch ihr Profil als linke Volksparte­i immer stärker verwässert hat. Mützenich erklärt, er sei eben mit analogen Arbeitsabl­äufen groß geworden: „Ich kann’s nicht ändern, ich bin nun mal ein bisschen älter.“

2002 kam „Mütze“, wie er in der SPD gerufen wird, als direkt gewählter Abgeordnet­er in den Bundestag. Seitdem hat er seinen Wahlkreis im Kölner Nordwesten immer gewonnen. Bei der Wahl 2017 waren es 32,3 Prozent. Mützenich ist ein klassische­s Arbeiterki­nd. Der Vater war Schlosser, die Mutter Hausfrau. Das Aufstiegsv­ersprechen der Sozialdemo­kratie funktionie­rte bei ihm. Er machte Abitur, studierte als erstes Kind der Familie, Politik. Das Weltgesche­hen fasziniert­e ihn früh. Willy Brandts Mantra von der Friedenspa­rtei SPD hat ihn tief geprägt. Mützenich, verheirate­t und Vater von zwei Kindern, engagiert sich in Köln in zahlreiche­n Vereinen. Und das immer ehrenamtli­ch: „Über Einkünfte aus Nebentätig­keiten oder als Lobbyist verfüge ich nicht. Mein Mandat steht für mich im Mittelpunk­t meiner Arbeit“, schreibt er über sich.

Aber ist einer wie Mützenich hart genug, um im Feilschen mit dem Koalitions­partner CDU und CSU für die SPD das Maximum herauszuho­len? Hat er Erfolg und stabilisie­rt die SPD im Bundestag, kann sein Name zu einer Marke werden. Im September will die Fraktion ihre Spitze neu wählen. Wer weiß, vielleicht bleibt „Mütze“sogar länger, wenn seine Partei ihn braucht.

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FOTO: ADAM BERRY Die Blicke richten sich auf Rolf Mützenich. Er soll die SPD-Fraktion durch die schwierige Phase führen.

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