Die Schneewittchen-Falle
TA-Autor Matthias Kaiser besucht bemerkenswerte Orte in der Heimat. Heute: Sehnsucht nach dem ursprünglichen Geschmack
Wenn ich daran denke, in welchem Zustand sich unser Garten vor einem Jahr befunden hat, laufen mir noch nachträglich kalte Schauer des Entsetzens über den Rücken. Gnadenlos hatte die glühende Hitze diese Oase gärtnerischen Fleißes in eine trostlose Wüste verwandelt. Der Rasen war verbrannt, unsere sorgfältig gezogenen Gemüsepflanzen verkümmert und die sonst so wunderbar lockere Humuserde auf unseren Beeten sah aus wie die rissige Haut eines alternden Elefantenbullen.
Besonders fiese Folgen hatte diese als Warnung der Natur zu wertende Dürre für meinen Enkel Harry, denn auch ein kleines, von Oma extra für ihn angelegtes Erdbeerbeet war derart derangiert, dass es aussah wie ein von Zille gezeichneter, vom Bolzen hart getrampelter Berliner Hinterhof. Obwohl unsere gärtnerischen Erfolge bei der Erdbeerzucht mehr als bescheiden waren – sie schmeckten nie besonders süß und ähnelten immer ein wenig verschrumpelten Radieschen – liebte sie Enkel Harry, der wegen seines Nachnamens Kaiser von einigen auch Prinz Harry genannt wird, abgöttisch. Traurig schlich er durch den Garten und zog ein Gesicht, als hätte ihm sein bester Kumpel, Kater Hotte, die Freundschaft gekündigt.
Unsere damaligen sofort eingeleiteten Versuche indes, seinen persönlichen Verlust mit sündhaft teuren Erdbeeren aus der Kaufhalle zu lindern, scheiterten kläglich. Er würdigte sie keines Blickes. Und das, obwohl sie uns nahezu anlachten. Was die These meines Freundes Rüdiger bewies, dass schönes Obst durchaus mit besonders schönen Frauen vergleichbar sei: Sorgfältig herausgeputzt und mit chemischen Schönheitsmittelchen aufgehübscht, seien trotzdem beide nicht nach jedermanns Geschmack.
Wie gesagt, Prinz Harry liebt eigentlich nur Omas Erdbeeren. Auch wenn die sowohl geschmacklich wie auch optisch nicht in der ersten Liga spielen. Doch sie sind von der geliebten Oma und vielleicht wird er irgendwann, wenn er eigene Kinder hat, von ihnen ebenso schwärmen, wie ich vom unvergleichlichen Geschmack der Krautrouladen meiner Großmutter. Die ebenfalls keine Augenweide waren. Aber einfach nur unvergesslich unwiderstehlich gut schmeckten – und verführerisch dufteten.
Älter geworden, grübelte ich lange, was Oma wohl für ein Gewürz verwendet haben könnte. Erst als ich selbst zu kochen begann, lüftete sich dieses Geheimnis von selbst: Sie ließ ihre Krautrouladen anbrennen. Ob aus Schussligkeit oder aus Kalkül sei dahingestellt. Wichtig war und ist für mich bis heute nur das Ergebnis: Sie schmeckten.
Jetzt kommt das große Aber: Stellen Sie sich einmal vor, in unseren Lebensmittelgeschäften,
Discountern und großen Einkaufstempeln würden nur noch Nahrungsmittel verkauft, die von liebenswerten Menschen erzeugt wurden und schon aus Sympathie einfach nur gut schmecken. Der schorfige, weil nicht gespritzte Apfel, die wirklich richtig krumme Gurke, Joghurt, der blütenweiß aussieht und statt in drei Monaten nach nur drei Tage verzehrt werden muss. Und Kartoffeln, mit Augen so groß, wie die von liebestollen Fröschen in Vollmondnächten. Und was ganz wichtig ist: Alles würde zum selben Preis verkauft, wie die optisch und mit dem Chemiebaukasten frisierte Verwandtschaft.
Plötzlich wären die Regale nicht mehr farbenfroh; alles würde nicht mehr so leuchten, präsentierte sich manchmal sogar grau in grau . . . wäre aber dafür völlig gesund und schmeckte einfach köstlich.
Würden Sie dort einkaufen? Oder würde für Sie eine solche ursprüngliche Belassenheit der Lebensmittel den Untergang der abendländischen Verkaufskultur bedeuten?
Wenn Sie die scheinbare Farblosigkeit nicht stört, dann sind Sie sicherlich schon Stammkunde eines Biomarktes. Sollten sie hingegen das schillernde Farbenspiel vermissen, weil es Ihnen erst den richtigen Kick beim Einkauf gibt, dann sind Sie in die Schneewittchen-Falle gelaufen.
„Schneewittchen-Falle?“werden Sie jetzt erstaunt fragen. „Was hat diese grimmsche Märchengestalt mit Lebensmittelfarbe, Chemiebaukästen und vor allem mit den Erdbeeren meines Enkels Harry zu tun?“
Sehr viel. Die passende Metapher indes war das traurige Ergebnis meiner eigenen grenzenlosen kindlichen Naivität. Fiel mir ein, als ich mir an der Fleischtheke unseres Lebensmittelmarktes – gegen meine tiefste Überzeugung, mein Schweinefleisch nur dort zu kaufen, wo ich dem lebenden Borstenvieh über den Rücken streichen kann – von einer verkaufsbegabten rotwangigen Brünetten acht völlig überalterte Koteletts andrehen ließ. Die hinter den polierten Glasscheiben der Schautheke jedoch so geschickt von rosigem Licht bestrahlt wurden, dass ich mich sofort an die bildschön hergerichtete Königstochter im gläsernen Sarg erinnerte. Ja, ich war von der Anmut meiner „Schneewittchen-Koteletts“derartig überwältigt, dass ich für sie sogar ohne zu zögern einen völlig überzogenen Preis löhnte.
Wenigstens haben die Koteletts keine bleibenden Schäden bei mir verursacht. Auch, wenn
ihre überalterte Zellstruktur und der daraus resultierende penetrante Geruch beim Braten durchaus ausgereicht hätten, um selbst ein abgehärtetes Immunsystem zu schädigen. Doch einer solchen Nagelprobe bin ich tunlichst aus dem Weg gegangen, denn ohne auch nur den kleinsten Bissen gekostet zu haben, beendete ich die Affäre mit dem Öffnen unserer Biotonne. die Innung der Lebensmittelfälscher. Leider verschweigt er, dass dieses Erdbeeraroma aus fermentierten Sägespänen hergestellt wird.
Angesprochen auf den gesetzlich geforderten Zusatz auf jedem Becher, dass bei der Herstellung eines Joghurts ausschließlich natürlich hergestellte Aromen verwendet werden dürfen, kontert er: „Sägespäne sind ein Produkt aus Bäumen. Und die wachsen doch natürlich, oder?“
Womit sich die Frage nach dem Nährwert solcher Produkte eigentlich gar nicht erst stellt. Wo echte Erdbeeren fehlen oder nur minimal eingesetzt werden – bei einer bekannten deutschen Molkerei sind das angeblich sechs Gramm Erdbeere auf 100 Gramm Joghurt, doch ich traue dieser Zusicherung nur bedingt – sind dem Nährwert die Flügel gestutzt.
Wieder werden jetzt einige protestieren, die auf ihren geliebten Erdbeerjoghurt nicht verzichten möchten: „Aber wir spüren doch die Erdbeerstücken im Mund?“Natürlich. Sie irren nicht. Doch was Sie für Erdbeerstückchen halten, sind mit künstlichem Erdbeeraroma aromatisierte Rübenschnitzel.
Doch zurück zur Schneewittchen-Falle. Auch Obst, Käse und selbst Backwaren werden heute (un-)natürlich beleuchtet und chemisch aufgerüstet. Oftmals in kleinen Dosen wie beispielsweise mit dem 2-Acetyl-1-Pyrrolin, einem Aroma, das Bäcker in einer Dosis von 70 Millionstel Gramm pro Kilo verwenden, um der frischen Weißbrotkruste ihren unwiderstehlichen Geschmack zu verleihen. Die Aufzählung solcher Hilfsmittel füllt im Internet ganze Datenbanken. Für jedermann abrufbar, lagern sie dort jedoch relativ sicher. Nur wenige Menschen wollen wirklich wissen, womit sie sich ernähren. „Augen zu und durch“, scheint der Grundsatz bei der Wahl unseres täglichen Brotes zu sein. Und billig, bitte.
Auf der Strecke bleiben dabei auch die zukünftigen Erinnerungen. Kein Discounter wird je verbrannte Kohlrouladen mit
Oma-Aroma ins Regal stellen oder Omas Erdbeeren „extra schlicht“anbieten, nach denen später irgendjemand Sehnsucht hat.
Warum auch. Es sei denn, der Verbraucher zückte dafür die Brieftasche …
Immerhin kaufen jährlich Tausende Berlin-Touristen Büchsen mit „Original Berliner Luft“. Ein absoluter Verkaufsschlager. Womit eigentlich die Frage nach der Sinnhaftigkeit beantwortet ist: Es bringt Gewinn und basta. Warum also nicht auch Omas Krautrouladenaroma?
So stellt sich am Ende meiner Betrachtungen eigentlich nur die Frage, was eigentlich mit all diesen wunderbaren Düften passiert, wenn sie nicht mehr präsent sind. Oder verständlicher formuliert: Wie kann man Düfte und Geschmäcker vor dem Vergessen bewahren? Und wer wird in der Zukunft eigentlich noch dazu in der Lage sein, unseren Enkeln und Urenkeln zu erklären, wie, um das Thema damit endgültig abzuhaken, eine angebrannte Krautroulade oder eine nicht ganz so vollmundige Erdbeere schmeckt?
Wird es in Zukunft Duft- und Geschmacksbewahrer geben? Doch die müssten zuerst einmal wissen, wo er der natürliche Geschmack zu finden ist.
Doch da gibt es einen Lichtblick, denn im Schatten der profitgesteuerten Nahrungsmittelindustrie haben sich regionale Erzeuger nach und nach einen Marktanteil gesichert, der bei den etablierten Lebensmittlern seit einiger Zeit die Alarmglocken schrillen lässt. Plötzlich surfen auch sie auf der Bio-Welle. Wenn auch – betrachte ich mir beispielsweise das teilweise über Tausende von Kilometern angekarrte uniforme Gemüse – erneut in bewährtem Gleichschritt der Manipulation.
Wer indes unverfälschte Produkte kaufen möchte, sollte dies direkt in Hofläden tun oder mindestens einmal wöchentlich den heimischen Wochenmarkt besuchen. Dort werden die Naturalien allenfalls mit der Taschenlampe beleuchtet – nämlich dann, wenn Sie im Winter zu früh dran sind und man Ihnen die Qualität des Gemüses beweisen möchte.
Auch ich besuche den Erfurter Wochenmarkt vor dem Dom seit einigen Jahren regelmäßig. Habe dort mit Händlern und Erzeugern sogar Freundschaften geschlossen und meide jene schwarzen Schafe, die ihr Gemüse von fahrenden holländischen Großhändlern beziehen, um als regional erzeugte Ware gewinnbringend weiterverkaufen. In meinen Augen mehr als nur ein verzeihlicher Verkaufstrick.
Inzwischen habe ich sogar einige Lieblingsverkäufer(innen). Eine von ihnen hat einen roten Haarschopf, und sie ist wahrscheinlich auch keine Königstochter. Also das völlige Gegenstück zu Schneewittchen, mit ihrem schwarzen Haar wie Ebenholz. Trotzdem laufe ich ihr nur allzu gern in die Falle.