Wenn sogar Hartz IV gekürzt wird
Bald entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob Sanktionen beim Existenzminimum zulässig sind. Jobcenter könnten ein Druckmittel verlieren
Der junge Mann ist pünktlich. Um neun Uhr sitzt er bei Kristin Garbisch im Büro. Die schwarze Kappe hat er leicht in den Nacken geschoben. Mit dem Führerschein laufe es ganz gut, erzählt der 20-Jährige. Dass er seinen Minijob nach einem Monat wieder verloren habe, sei natürlich großer Mist. Aber demnächst wolle er umziehen, ein Kumpel habe ihm eine neue Stelle in der Landwirtschaft verschafft.
Garbisch hört geduldig zu. Sie ist Fallmanagerin im Jobcenter Börde. Das liegt in der Nähe von Magdeburg, aber es könnte überall in Deutschland liegen. Die Arbeitslosenquote entspricht mit fünf Prozent etwa dem bundesweiten Durchschnitt. Zwar kämpft die Region noch mit dem Strukturwandel nach der Wende. Die Lage an zwei Autobahnen führt aber dazu, dass sich mehr Firmen ansiedeln. Viele suchen Personal – und finden keins. Fallmanager wie Kristin Garbisch versuchen deshalb, die letzten Reserven im Arbeitsmarkt zu mobilisieren. Dazu gehört, Langzeitarbeitslose fit zu machen, damit sie doch noch einen Job finden. „Fördern und Fordern“heißt das Kapitel im Sozialgesetzbuch, in dem es um Hartz IV geht. Bleibt die Mitwirkung aus, weil Termine oder Vereinbarungen nicht eingehalten werden, wird die Leistung gekürzt – im Extremfall auf null. Bald wird das Bundesverfassungsgericht darüber urteilen, ob solche Sanktionen zulässig sind. Die Kernfrage: Darf man das Existenzminimum, das mit Hartz IV sichergestellt wird, kürzen?
Leute aus der Praxis wie Kristin Garbisch verfolgen die Diskussion um die Sanktionen mit gemischten Gefühlen. „Grundsätzlich sind Sanktionen sinnvoll“, sagt Garbisch. „Wir sollten sie beibehalten.“Sie weiß aber auch, dass es oft nicht zielführend ist, Jugendliche so hart zu bestrafen, wie es das Gesetz heute vorsieht. „Wichtig ist, dass Ängste und Vorbehalte gegenüber dem Jobcenter abgebaut werden.“Sei das der Fall, laufe die Betreuung der jungen Arbeitslosen reibungslos. So wie bei dem jungen Mann mit der schwarzen Kappe. Mindestens einmal im Monat sitzt er im Zimmer von Kirstin Garbisch. Dann geht es um die wichtigen Fragen: Ist der Kühlschrank voll? Wie läuft es mit dem Führerschein? „Bin am Büffeln“, kommt die Antwort. „Ist schwer.“Im Gespräch mit der Fallmanagerin wirkt der 20-Jährige schüchtern, aber freundlich. Dass er nun selbstständig über seine berufliche Zukunft nachdenkt, findet Garbisch einen großen Fortschritt.
Als sie ihn vor drei Jahren kennenlernte, hatte er die Schule abgebrochen und lebte in einem „schwierigen Elternhaus“, wie sie es nennt. Garbisch besorgte ihm eine eigene Wohnung und eine Betreuerin. Zuletzt organisierte sie ihm einen Minijob, in dem er lernen sollte, zwei Tage lang acht Stunden zu arbeiten. Weil er krank wurde, als ein wichtiger Auftrag kam, warf der Firmeninhaber ihn raus. Eigentlich war mit dem Jobcenter vereinbart, dass er den jungen Mann in Vollzeit übernimmt, wenn dieser seinen Führerschein macht. Nun zahlt das Jobcenter die Fahrausbildung trotzdem.
Für den Aufwand, den eine so enge Betreuung erfordert, erwarten Fallmanager wie Garbisch, dass ihre „Kunden“mitmachen. Dazu zählt vor allem, regelmäßig zum Gespräch ins Jobcenter zu kommen. „Termine einzuhalten, ist essenziell“, sagt der Geschäftsführer des Jobcenters Börde, Marco Gravert. „Wenn Termine nicht eingehalten werden, zerstört das viel in dem Prozess, den man gemeinsam erarbeitet hat.“Um zehn Prozent kann die Hartz-IVRegelleistung drei Monate lang gekürzt werden, wenn Termine verpasst werden.
Die meisten Sanktionen, die Jobcenter und Arbeitsagenturen verteilen, werden wegen genau solcher „Meldeversäumnisse“verhängt. Im vergangenen Jahr bezogen sich bundesweit 77 Prozent der Strafen nur darauf – im Jobcenter Börde waren es sogar 85 Prozent. Die schärferen Sanktionen, bei denen bis zu 60 Prozent der Leistungen wegfallen, werden entsprechend seltener verhängt.
„Der Einsatz von Sanktionen erfolgt individuell und nach Augenmaß“, versichert JobcenterChef Gravert. Dass Sanktionen aber nötig seien, sei klar. „Wir geben unsere Hilfe und möchten Mitwirkung als Gegenleistung zurückhaben.“
In einem Punkt ist Gravert für eine Reform. „Es hat keinen Sinn, dass Jugendliche härter sanktioniert werden als Erwachsene.“Die Leistungen komplett auf null zu fahren, was bei Jugendlichen – anders als bei Erwachsenen – möglich ist, sieht er skeptisch. „Den Betroffenen drohen zum Beispiel Mietschulden oder auch die Wohnungslosigkeit.“
Dem jungen Mann mit der schwarzen Kappe ist die HartzIV-Leistung bisher nicht gekürzt worden. Nächste Woche muss er Kristin Grabisch wieder erzählen, wie es mit dem Führerschein läuft.
„Wichtig ist, dass Ängste abgebaut werden“