Thüringer Allgemeine (Apolda)

Wenn sogar Hartz IV gekürzt wird

Bald entscheide­t das Bundesverf­assungsger­icht, ob Sanktionen beim Existenzmi­nimum zulässig sind. Jobcenter könnten ein Druckmitte­l verlieren

- Von Philipp Neumann

Der junge Mann ist pünktlich. Um neun Uhr sitzt er bei Kristin Garbisch im Büro. Die schwarze Kappe hat er leicht in den Nacken geschoben. Mit dem Führersche­in laufe es ganz gut, erzählt der 20-Jährige. Dass er seinen Minijob nach einem Monat wieder verloren habe, sei natürlich großer Mist. Aber demnächst wolle er umziehen, ein Kumpel habe ihm eine neue Stelle in der Landwirtsc­haft verschafft.

Garbisch hört geduldig zu. Sie ist Fallmanage­rin im Jobcenter Börde. Das liegt in der Nähe von Magdeburg, aber es könnte überall in Deutschlan­d liegen. Die Arbeitslos­enquote entspricht mit fünf Prozent etwa dem bundesweit­en Durchschni­tt. Zwar kämpft die Region noch mit dem Strukturwa­ndel nach der Wende. Die Lage an zwei Autobahnen führt aber dazu, dass sich mehr Firmen ansiedeln. Viele suchen Personal – und finden keins. Fallmanage­r wie Kristin Garbisch versuchen deshalb, die letzten Reserven im Arbeitsmar­kt zu mobilisier­en. Dazu gehört, Langzeitar­beitslose fit zu machen, damit sie doch noch einen Job finden. „Fördern und Fordern“heißt das Kapitel im Sozialgese­tzbuch, in dem es um Hartz IV geht. Bleibt die Mitwirkung aus, weil Termine oder Vereinbaru­ngen nicht eingehalte­n werden, wird die Leistung gekürzt – im Extremfall auf null. Bald wird das Bundesverf­assungsger­icht darüber urteilen, ob solche Sanktionen zulässig sind. Die Kernfrage: Darf man das Existenzmi­nimum, das mit Hartz IV sichergest­ellt wird, kürzen?

Leute aus der Praxis wie Kristin Garbisch verfolgen die Diskussion um die Sanktionen mit gemischten Gefühlen. „Grundsätzl­ich sind Sanktionen sinnvoll“, sagt Garbisch. „Wir sollten sie beibehalte­n.“Sie weiß aber auch, dass es oft nicht zielführen­d ist, Jugendlich­e so hart zu bestrafen, wie es das Gesetz heute vorsieht. „Wichtig ist, dass Ängste und Vorbehalte gegenüber dem Jobcenter abgebaut werden.“Sei das der Fall, laufe die Betreuung der jungen Arbeitslos­en reibungslo­s. So wie bei dem jungen Mann mit der schwarzen Kappe. Mindestens einmal im Monat sitzt er im Zimmer von Kirstin Garbisch. Dann geht es um die wichtigen Fragen: Ist der Kühlschran­k voll? Wie läuft es mit dem Führersche­in? „Bin am Büffeln“, kommt die Antwort. „Ist schwer.“Im Gespräch mit der Fallmanage­rin wirkt der 20-Jährige schüchtern, aber freundlich. Dass er nun selbststän­dig über seine berufliche Zukunft nachdenkt, findet Garbisch einen großen Fortschrit­t.

Als sie ihn vor drei Jahren kennenlern­te, hatte er die Schule abgebroche­n und lebte in einem „schwierige­n Elternhaus“, wie sie es nennt. Garbisch besorgte ihm eine eigene Wohnung und eine Betreuerin. Zuletzt organisier­te sie ihm einen Minijob, in dem er lernen sollte, zwei Tage lang acht Stunden zu arbeiten. Weil er krank wurde, als ein wichtiger Auftrag kam, warf der Firmeninha­ber ihn raus. Eigentlich war mit dem Jobcenter vereinbart, dass er den jungen Mann in Vollzeit übernimmt, wenn dieser seinen Führersche­in macht. Nun zahlt das Jobcenter die Fahrausbil­dung trotzdem.

Für den Aufwand, den eine so enge Betreuung erfordert, erwarten Fallmanage­r wie Garbisch, dass ihre „Kunden“mitmachen. Dazu zählt vor allem, regelmäßig zum Gespräch ins Jobcenter zu kommen. „Termine einzuhalte­n, ist essenziell“, sagt der Geschäftsf­ührer des Jobcenters Börde, Marco Gravert. „Wenn Termine nicht eingehalte­n werden, zerstört das viel in dem Prozess, den man gemeinsam erarbeitet hat.“Um zehn Prozent kann die Hartz-IVRegellei­stung drei Monate lang gekürzt werden, wenn Termine verpasst werden.

Die meisten Sanktionen, die Jobcenter und Arbeitsage­nturen verteilen, werden wegen genau solcher „Meldeversä­umnisse“verhängt. Im vergangene­n Jahr bezogen sich bundesweit 77 Prozent der Strafen nur darauf – im Jobcenter Börde waren es sogar 85 Prozent. Die schärferen Sanktionen, bei denen bis zu 60 Prozent der Leistungen wegfallen, werden entspreche­nd seltener verhängt.

„Der Einsatz von Sanktionen erfolgt individuel­l und nach Augenmaß“, versichert JobcenterC­hef Gravert. Dass Sanktionen aber nötig seien, sei klar. „Wir geben unsere Hilfe und möchten Mitwirkung als Gegenleist­ung zurückhabe­n.“

In einem Punkt ist Gravert für eine Reform. „Es hat keinen Sinn, dass Jugendlich­e härter sanktionie­rt werden als Erwachsene.“Die Leistungen komplett auf null zu fahren, was bei Jugendlich­en – anders als bei Erwachsene­n – möglich ist, sieht er skeptisch. „Den Betroffene­n drohen zum Beispiel Mietschuld­en oder auch die Wohnungslo­sigkeit.“

Dem jungen Mann mit der schwarzen Kappe ist die HartzIV-Leistung bisher nicht gekürzt worden. Nächste Woche muss er Kristin Grabisch wieder erzählen, wie es mit dem Führersche­in läuft.

„Wichtig ist, dass Ängste abgebaut werden“

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FOTO: ANJA JUNGNICKEL Fallmanage­rin Garbisch im Jobcenter: Einmal im Monat spricht sie mit ihren „Kunden“.

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