Vom Titel-Trauma erlöst
Ganz Kanada jubelt: Basketballer der Toronto Raptors gewinnen NBA-Saison
Diese Geschichte hat viele Startpunkte. Es könnte das Jahr 1995 sein. Oder es ist 1946. Oder der Sommer 2018. Wie wäre es mit 1861? Nun findet sie ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem Titelgewinn der Toronto Raptors in der nordamerikanischen Basketball-Profiliga NBA. Es ist die erste Meisterschaft für ein Team aus Kanada, das in den Finalspielen den großen Favoriten Golden State Warriors mit 4:2-Siegen bezwang.
„Sogar Menschen aus anderen Teilen Kanadas haben ein Team aus Toronto angefeuert“, schrieb Torontos Bürgermeister John Tory, in dessen Stadt bis spät abends Feuerwerk gezündet wurde. „Und das sagt einiges aus!“In der Tat. Dass die Raptors am Donnerstagabend (Ortszeit) zum ersten Mal die LarryO’Brien-Trophäe in den Händen hielten, war die sportliche Erlösung für ein ganzes Land. Seit 26 Jahren haben kanadische Mannschaften in den vier großen nordamerikanischen SportLigen keinen Titel mehr geholt. Immer wanderte der Pokal zum hassgeliebten Nachbarn USA. Nun ist der Bann gebrochen. Und das ausgerechnet im Basketball, wo die Spieler keinen Helm tragen, keinen Schläger in der Hand halten und nicht einem Puck hinterherjagen. Nicht mal das Spielfeld ist aus Eis. Aus kanadischer Sicht also ein ziemlich sinnloses Spiel.
Dabei verbindet Kanada und Basketball eine Menge. James Naismith, der Erfinder des Spiels, wurde 1861 in Kanada geboren. Das erste NBA-Spiel wurde 1946 zwischen den Toronto Huskies und den New York Knicks ausgetragen. Dann zerbrach die Beziehung zwischen Land und Sport, doch die Liebe loderte in den 1990er-Jahren kurz wieder auf. Die NBA expandierte 1995 nach Vancouver und Toronto – zunächst erfolglos, die Begeisterung blieb aus. Die Vancouver Grizzlies zogen 2001 zurück in die USA nach Memphis.
Auch die Raptors, benannt nach dem Dinosaurier-Film „Jurassic Park“, waren erfolglos, unattraktiv und sprichwörtlich vom Aussterben bedroht. Dann verpflichteten sie jedoch die Cousins Vince Carter und Tracy McGrady, beide bekannt für ihre spektakulären Dunkings. Carter wurde zum absoluten Star der Franchise, bekam einen Werbevertrag mit Nike und brachte seinen eigenen Schuh auf den Markt. Durch ihn waren Basketball und die Raptors plötzlich angesagt. Das lilafarbene Trikot mit dem großen, pinken Dino-Maskottchen ist selbst heute noch das beliebteste Retro-Shirt im Sortiment des Sportartikelherstellers „Mitchell & Ness“. Ohne Carter würde in Kanada wohl nicht mehr NBABasketball gespielt werden.
Und ohne Kawhi Leonard hätten die Raptors nicht die 2019er-Meisterschaft gewonnen. Der 27-Jährige kam im Sommer 2018 von den San Antonio Spurs nach Kanada. Im Gegenzug wechselte DeMar DeRozan, der damals beste Spieler des Teams, nach Texas. Die Entscheidung des Raptors-Management war mutig. Schließlich stand Leonard in der Vorsaison wegen einer Verletzung nur in neun Partien auf dem Feld. Vollkommen unklar war, ob er wieder an seine alte Form anknüpfen konnte. Die Entscheidung wurde belohnt. Die nordamerikanischen Journalisten wählten Leonard zum wertvollsten Spieler der Finalserie. „Ich wollte hier Geschichte schreiben. Das habe ich geschafft“, sagte er. In den Playoffs erzielte er in 14 Spielen mehr als 30 Punkte. Das schafften zuvor nur Michael Jordan, Kobe Bryant und Hakeem Olajuwon.
Im entscheidenden sechsten Spiel der Serie legte Leonard beim 114:110-Erfolg gegen die Warriors 22 Zähler auf. Es war – mal wieder – eine Teamleistung. Pascal Siakam und Kyle Lowry (beide 26 Punkte) überzeugten genauso wie Fred VanVleet und Serge Ibaka (15) von der Bank. Auf der Pressekonferenz blickte Leonard zurück, wie im vergangenen Sommer das neueste Kapitel von Torontos BasketballGeschichte begann: „Ich weiß, dass dein bester Freund gegangen ist und du sauer bist“, sagte er ein paar Tage nach dem Wechsel von DeRozan in Richtung seines neuen Teamkollegen Lowry. „Aber lass uns hier etwas Besonderes machen.“Das haben sie geschafft – und ein ganzes Land vom Titel-Trauma erlöst.