Thüringer Allgemeine (Apolda)

„Nicht jeder Besuch beim Arzt ist nötig“

Ärztepräsi­dent Klaus Reinhardt ermahnt Patienten, nicht zu oft in die Praxis zu kommen. Finanziell­e Anreize sollen dabei helfen

- Von Philipp Neumann

Der Präsident kommt mit dem Fahrrad. Klaus Reinhardt gibt das erste große Interview, nachdem er im Mai zum Ärztepräsi­denten gewählt worden war. In dem Gespräch wird klar, dass Reinhardt in sein neues Amt vor allem seine Erfahrunge­n aus der eigenen Hausarztpr­axis in Bielefeld einbringen will: Er möchte eine Diskussion anstoßen, wann und wie oft Patienten zum Arzt gehen müssen.

Herr Reinhardt, Sie sind mit drei Stimmen Vorsprung Ärztepräsi­dent geworden. Hätten Sie verloren, stünde erstmals eine Frau an der Spitze Ihrer Standesorg­anisation. Warum war die Zeit nicht reif für eine Präsidenti­n?

Klaus Reinhardt: Die Zeit der ersten Präsidenti­n der Bundesärzt­ekammer wird kommen. Wichtig ist, dass jemand an der Spitze steht, der noch ärztlich tätig ist und das Gesundheit­swesen aus der eigenen Praxis kennt.

Haben es Frauen schwerer als Männer, Karriere zu machen?

Ja. Zwar übernehmen heute viel mehr Männer familiäre Aufgaben. Aber es ist immer noch so: In der Zeit, in der Frauen Kinder bekommen und die Kinder noch klein sind, können sie den Beruf nur schwer voll ausüben. Ärztinnen und Ärzte haben es häufig mit Notfällen und mit nicht vorhersehb­aren Situatione­n zu tun. Das lässt sich nicht leicht mit Familie vereinbare­n. Wir müssen den Arztberuf familienfr­eundlicher machen.

Die meisten Medizinstu­dierenden sind weiblich – trotzdem besetzen Männer die Spitzenpos­itionen an Krankenhäu­sern. Warum?

Das ist kein Problem, das auf die Medizin beschränkt ist. Ich bin Mitglied des Vereins ProQuote und diskutiere gern, was man tun kann, damit mehr Frauen in Führungspo­sitionen kommen. Das ist aber vor allem ein Thema für die Politik und für die Arbeitgebe­r.

Braucht es eine Frauenquot­e beispielsw­eise für Chefarztst­ellen?

Über eine Frauenquot­e für Führungspo­sten in der Medizin kann man reden. Ich bin dafür. In zehn Jahren wird das aber kein Thema mehr sein. Auch Frauen sagen ja: Ich will den Posten, weil ich qualifizie­rt bin, und nicht, weil ich eine Frau bin.

Gehen wir zu oft zum Arzt?

Nicht jeder Besuch beim Arzt ist notwendig und sinnvoll. Die Menschen in Deutschlan­d haben ein hohes Sicherheit­sbedürfnis und viele wollen, dass sich sofort ein Arzt kümmert. Das ist legitim. Aber ist es nötig? Wir brauchen mehr eigene Gesundheit­skompetenz. Dann wüssten die Leute, dass sie bei einem Brechdurch­fall ein paar Tage mit einer einfachen Diät auch selbst zurechtkom­men. Sie müssen nicht sofort in die Notaufnahm­e. Und natürlich kann man sich in Zweifelsfä­llen eine zweite Meinung einholen. Es gibt aber Menschen, die haben nicht einen Hausarzt, sondern zwei oder drei Hausärzte und holen regelmäßig eine zweite oder dritte Meinung ein. Das geht nicht.

Wie ließe sich das ändern?

Das ist eine Frage von Solidaritä­t. Wenn die Zahl der Ärzte begrenzt ist, muss man fragen, ob diejenigen, die unnötig im Wartezimme­r sitzen, sich solidarisc­h verhalten. Die Politik scheut die Diskussion darüber, denn das würde bedeuten, dass man diesen Menschen und diesem Verhalten Grenzen setzen müsste. Wir sind aber weit davon entfernt. Da passiert nichts.

Welche Grenzen würden Sie setzen?

Heute wird längst erfasst, welcher Patient wann bei welchem Arzt war. Man kann feststelle­n, ob ein Patient mit derselben Erkrankung bei zwei, drei, vier Ärzten war oder nach einem Arztbesuch wegen der gleichen Sache ins Krankenhau­s gefahren ist. Deshalb: Wir müssen gemeinsam mit Politik und Krankenkas­sen nach Lösungen suchen und die Patienten auch mal nach dem Grund fragen, warum sie wegen derselben Erkrankung bei sehr vielen Ärzten waren. Es mag diesen Grund ja geben. Aber heute wird das völlig unkommenti­ert hingenomme­n. Das ist mir zu wenig. Die Patienten müssen lernen, verantwort­ungsvoll mit der Ressource Arzt umzugehen. Wer das nicht tut, verbaut den Menschen, die ernsthaft erkrankt sind, den Weg zu ärztlicher Hilfe.

Denken Sie dabei an finanziell­e Anreize wie die Praxisgebü­hr?

Die Praxisgebü­hr war falsch organisier­t. Das kann man intelligen­ter machen. Aber: Die Praxisgebü­hr hat grundsätzl­ich funktionie­rt. Hausärzte wie ich haben festgestel­lt: Als die Praxisgebü­hr wegfiel, nahm die Zahl der Patienten und die Zahl der Arztbesuch­e spürbar zu. Der Erstzugang zum Arzt sollte immer frei sein. Aber man muss genauer hinsehen, wer wann und weshalb zum Arzt geht.

Wie könnte das konkret funktionie­ren?

Die Rolle der Krankenkas­sen habe ich erwähnt. Man kann auch über eine wirtschaft­liche Beteiligun­g des Patienten nachdenken. Die muss sozialvert­räglich sein. Mit kleinen Geldbeträg­en würde sich das Verhalten schon verändern. Das entspricht meiner Beobachtun­g und den Erfahrunge­n aus anderen Ländern, in denen es eine Selbstbete­iligung gibt. Mit dem Thema müssen wir uns befassen, auch wenn das in der Ärzteschaf­t nicht unumstritt­en ist.

Was meinen Sie mit „verträglic­her Form der Selbstbete­iligung“?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Patient kommt zur Blutabnahm­e in meine Praxis und spricht mich auf sein schmerzend­es und geschwolle­nes Knie an. Er sagt, er habe drei Tage später einen Termin beim Orthopäden. Ich schaue mir das Knie an und halte das für vertretbar. Trotzdem setzt sich der Patient ins Auto und fährt sofort in die Klinik. Um hier ganz klar zu sein: Jeder soll zu jedem Arzt gehen können. Jeder sollte ohne Zugangsbar­rieren die Meinung eines zweiten Arztes einholen können. Aber das muss in einem vernünftig­en und vertretbar­en Rahmen bleiben. Bei mehrfachen und völlig unnötigen Arztbesuch­en kann eine moderate wirtschaft­liche Beteiligun­g zu einem verantwort­ungsvoller­en Umgang mit unseren knappen Ressourcen im Gesundheit­swesen beitragen. Es geht um eine bessere Steuerung von Patienten. Davon profitiere­n am Ende alle. Andere Hausärzte oder Kollegen in Notfallamb­ulanzen der Krankenhäu­ser wären dankbar, wenn wir dieses Thema endlich diskutiere­n würden.

 ?? FOTO: RETO KLAR ?? Ärztepräsi­dent Klaus Reinhardt im Foyer der Bundesärzt­ekammer in Berlin.
FOTO: RETO KLAR Ärztepräsi­dent Klaus Reinhardt im Foyer der Bundesärzt­ekammer in Berlin.

Newspapers in German

Newspapers from Germany