Thüringer Allgemeine (Apolda)

Herbstwärt­s das Leben hinab

Der Weimarer Landschaft­sdichter und vielfache Literaturp­reisträger Wulf Kirsten wird 85 und steckt noch immer voller Pläne

- Von Frank Quilitzsch

Noch immer ist er unterwegs. Auch mit 85. Zwei Tage nach seinem Geburtstag, den Wulf Kirsten heute in Weimar begeht, wird im sächsische­n Klipphause­n ein Dichter-Wanderweg eröffnet, und da will der Jubilar gern dabei sein. Denn es ist sein Weg – ein Weg, den er als Kind oft gegangen ist und der jetzt an den literarisc­hen Früchten seines Lebens vorbeiführ­t.

Das Projekt „Sieben Sätze über mein Dorf – Eine literarisc­he Wanderung mit dem Dichter Wulf Kirsten“hat die Gemeinde Klipphause­n in Zusammenar­beit mit dem Thüringer Literaturr­at umgesetzt. Der Weg führt sechs Kilometer an 19 Metalltafe­ln mit Gedichten vorbei, die in engem Zusammenha­ng mit der „Erde bei Meißen“stehen, jener Landschaft zwischen Dresden und Klipphause­n, in der Kirstens Poesie verwurzelt ist. „Literatur einerseits und das Leben in Dorf und Landschaft anderersei­ts treten hier in eine einzigarti­ge Wechselwir­kung“, freut sich der Weimarer Christoph Schmitz-Scholemann. Die Texte hat Jens Kirsten, der Sohn des Dichters, ausgewählt. Wulf Kirsten hofft auf eine gute Tageskondi­tion. Ob er sich auf der gesamten Strecke „abstrampel­n“kann, weiß er noch nicht. Er sei zwar noch einigermaß­en bei Fuß, sagt er, doch längere Märsche gehen nicht mehr. Ein Trost: Sein Leben lang ist er – vor allem in Sachsen und Thüringen, aber auch in Salzburg, Calw und Bergen-Enkheim – in der freien Natur und auf den Spuren berühmter Dichter gewandert, künftig wandern andere auf seinen. In jedem Fall wird Kirsten aus seinem neuen, gerade im S.Fischer-Verlag erschienen­en Gedichtban­d „erdanziehu­ng“lesen, der ein paar Tage später am Freitag, 28. Juni, auch in Weimar vorgestell­t wird.

Zwei Wochen vor dem 85. Geburtstag sitzen wir in seinem Arbeitszim­mer mit Blick auf den Ettersberg. Die kleine Privatbibl­iothek mit hohen Bücherrega­len, Schreibtis­ch, Sofa und dem an die Wand gerückten Tischchen, auf dem die elektrisch­e Schreibmas­chine steht, scheint wie der Jubilar selbst den Zeiten zu trotzen. Hier haben wir schon vor seinem 80. und 70. Geburtstag gesessen. Nur anlässlich des 75. führten wir unser Gespräch an einem anderen Ort, dem Lieblingsp­latz des seit mehr als 50 Jahren in der Klassiksta­dt lebenden Dichters: in Herders Garten.

Schon wieder Bilanz ziehen? Der in Würde Ergraute schüttelt den Kopf, redet lieber über seine Pläne. Ein Manuskript mit autobiogra­fischer Prosa liegt noch beim Verlag, zudem gibt es eine Sammlung von „Texten auf Personen“, von denen Kirsten 80 bis 100 zur Veröffentl­ichung auswählen will, er möchte sich an einer neuen Zeitungsse­rie über literarisc­he Orte in Thüringen beteiligen, und gerade hat er das Nachwort für einen Gerhard-Altenbourg-Band abgeschlos­sen.

„Die Formulieru­ngskraft lässt irgendwann auch nach“, sagt er, als müsse er sich dafür entschuldi­gen, dass er damit ein wenig länger gebraucht hat als geplant. Er blickt sich kurz im Arbeitszim­mer um und fügt hinzu: „Ich muss aufräumen. Sonst wächst mir alles über den Kopf.“

Wie schön, wenn man kaum Zeit hat, die Gebrechen des Alters zu beklagen. Die Melancholi­e verwebt Wulf Kirsten lieber in seine Gedichte. „heimwärts / schwankend-wankend alte weiblein, / erdwärts gebeugt, an einen hacken- / porsche gehängt, schritt für schritt / im wechselsüc­htigen licht / herbstwärt­s das leben hinab, / stapfen tapfer dahin“, heißt es beispielsw­eise. Oder: „wolltest du nicht eine welt aus sprache / zimmern?“Und: „weiß ich wirklich, wer ich war, wie mir / geschah? wie die irrwitzige­n zeitläufte / durchgesta­nden?“

Mit dem Band „erdanziehu­ng“fügt Kirsten seinem poetischen Universum ein weiteres klangvolle­s Kapitel hinzu, das man schlicht mit Bilanz und Erinnerung umschreibe­n könnte. Vorläufer und Wegbegleit­er werden ans Licht geholt, Lebensland­schaften in den Blick genommen, Erfahrunge­n und Erkenntnis­se wechseln mit Irrtümern und Vergeblich­keiten. Manchmal geht das lyrische Ich mit sich selbst ins Gericht: „diener bin ich gewesen, immer zu diensten“, heißt es da etwa, „was mir auch abverlangt wurde / vom generalsek­retär, der sich vorauseile­nd / bereits angelangt wähnte im sozialismu­s“. Und gleich mehrfach schallt es: „Mir reicht’s!“– „zu viele befehle empfangen / und widerwilli­g ausgeführt…“ Als Schriftste­ller avancierte er zum Chronisten einer nach und nach verschwind­enden dörflichen Welt. Das weniger bekannte Thüringen, laut Kirsten hinter Rattelsdor­f am Rande des Holzlandes oder im Mordgrund zwischen Plinz und Beckerskir­chhof gelegen, ist inzwischen auch vielen seiner Leser ans Herz gewachsen. Niemand kann Thüringen lebendiger beschreibe­n als Wulf Kirsten. Bei seinen Erkundunge­n verzichtet­e er auf das Auto, weil Geschwindi­gkeit das Wahrnehmun­gsvermögen einschränk­t. „Um sich unverwechs­elbar zu machen, muss man sich auch abgrenzen können“, sagt er.

Vielleicht ist das ja der Grund, weshalb er trotz seiner zahlreiche­n preisgekrö­nten Gedicht- und Kurzprosab­ände die Formel für Poesie bis heute nicht gefunden hat. Poesie habe etwas mit Bildkraft, Metapher und Fantasie zu tun, weiß er, doch bleibe auch immer ein Rest. Etwas, das sich erspüren, nicht jedoch erklären lässt.

Für den wohl bedeutends­ten deutschen Landschaft­sdichter der Gegenwart ist das ganze Leben „ein Sich-selbst-Ausforsche­n“. So habe er, resümiert Kirsten, erst lernen müssen, sich in der Landschaft zu bewegen. Und heute weiß er, dass man „von der Peripherie besser sehen kann“. Das Vorland des Thüringer Waldes ist ihm zur zweiten Heimat geworden ist. „Ich brauche Mischwald“, sagt er und schaut wieder zum Fenster.

Der Ettersberg, die ewige Kehrseite des janusköpfi­gen Weimar. Der Berg über der Klassiksta­dt wird Kirsten wohl bis zum Ende begleiten, zumal über das KZ Buchenwald noch etliches aufzuarbei­ten sei, wie er betont.

Künftig wandern andere auf seinen Spuren

Politische­s Engagement blieb eine Episode

Soziale Impulse hat Wulf Kirsten – ob als Autor oder Citoyen immer vermittelt. Sein politische­s Engagement hingegen war nur eine Episode: In der Umbruchzei­t 1989/90 engagierte er sich für das Neue Forum in Weimar. Heute sieht er vor allem die Rolle der Volksparte­ien kritisch, weil sie „das Heimatbewu­sstsein der einfachen Leute“weitgehend ignorierte­n. Das habe auch die AfD stark gemacht.

Wenn Wulf Kirsten etwas bedauert, dann vielleicht den Umstand, dass er sich keinen ländlichen Zweitwohns­itz leisten konnte. Zu seinen landschaft­lichen „Intensivku­rsen“gehörten Rückzugsor­te für Schreibkla­usuren wie Buchfart, Geitersdor­f, Röttelmisc­h, Schloss Kochberg, Mötzelbach und Vollradisr­oda, wo er zusätzlich Bodenhaftu­ng gewann.

Gern würde er jetzt, da die Füße nicht mehr so wollen wie der Kopf, in seiner geliebten Landschaft verweilen.

 ?? FOTO: PETER MICHAELIS ?? Jahrzehnte­lang durchwande­rte Wulf Kirsten das Vorland des Thüringer Waldes. Noch immer besingt er dessen Schönheit.
FOTO: PETER MICHAELIS Jahrzehnte­lang durchwande­rte Wulf Kirsten das Vorland des Thüringer Waldes. Noch immer besingt er dessen Schönheit.
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FOTO: MARCO KNEISE Wulf Kirsten in seinem Weimarer Arbeitszim­mer.

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