Thüringer Allgemeine (Apolda)

Zeilen zeugen von „maximal medizinisc­her Unkenntnis“

Masernfäll­e: Stadt Jena ermittelt 500 Kontaktper­sonen – Waldorfsch­ule in der Kritik

- Von Thorsten Büker

Dass die Diskussion über die zwei Masernfäll­e an Schärfe gewann, hat zwei Gründe: Die Stadtverwa­ltung agierte erstaunlic­h zurückhalt­end, als es darum ging, die Bürger der Stadt zu informiere­n. Und gleichzeit­ig stand die Waldorfsch­ule am Pranger. Nach einer Veröffentl­ichung auf der schuleigen­en Homepage verurteile­n Kritiker den verharmlos­enden Umgang mit der ansteckend­en Infektions­krankheit. Neben den bereits bekannten zwei Fällen seien keine neuen Erkrankung­en gemeldet worden, teilte am Mittwoch die Stadtverwa­ltung Jena mit.

Am 12. Juni bestätigte die Stadtverwa­ltung zwei Masernfäll­e bei einem Erwachsene­n und einem Schulkind und verschwieg weitere Details. Am vergangene­n Freitag bestätigte allerdings die Waldorfsch­ule selbst, dass ein Schüler an Masern erkrankt sei. Kritik hagelte es für den Versuch, die bundesweit­e Diskussion zusammenzu­fassen:

„Ob Masern, Ziegenpete­r oder Windpocken – sie gehörten einfach zu einer gesunden Kindheit dazu, und viele Eltern erlebten im Zuge einer überstande­nen Kinderkran­kheit an ihren Kindern einen deutlichen Entwicklun­gsschub. Heute dagegen jagt ein Horrorszen­ario das nächste: Schweinepe­st, Vogelgripp­e, Rinderwahn­sinn, Ebola, Masern – es wird eine geradezu irrational­e Hysterie geschürt. Vor Masern hat man heute so viel Angst wie früher vor Pest und Cholera. Es heißt, Masern seien keineswegs harmlos, wie man früher meinte, es könne Komplikati­onen geben, die sogar bis zum Tod führen könnten... Es heißt aber auch, dass schon Kinder durch Folgen von Masernimpf­ungen geschädigt worden wären.“ Der Autor dieser Zeilen schrieb selbst, nicht zu wissen, was richtig sei, am Pranger steht die Schule dennoch: „Also, ich frage mich bei sowas schon, ob die Waldorfsch­ule vielleicht mal einige ihrer Positionen an die Wissenscha­ft des 21. Jahrhunder­ts anpassen könnte“, schrieb ein Nutzer auf Facebook. Von gefährlich­er Esoterik und von Impfgegner­n ist die Rede.

Mathias Pletz bezeichnet den Duktus als sehr problemati­sch. „Wie kann ich bei Ebola von irrational­er Hysterie sprechen, wenn ich weiß, dass die EbolaEpide­mie von 2013 mehr als 10.000 Tote forderte und westafrika­nische Staaten in die Regierungs­unfähigkei­t stürzten?“, sagte der Direktor des Instituts für Infektions­medizin und Krankenhau­shygiene am Universitä­tsklinikum Jena. Es zeuge von einer „maximal medizinisc­hen Unkenntnis“, Masern mit Mumps zu vergleiche­n. Masern infizierte­n dem Aidserrege­r gleich mit den Lymphozyte­n die wichtigste Zelle des Immunsyste­ms. Eine Masernerkr­ankung führe zu einer vorübergeh­enden Immunschwä­che von etwa sechs bis acht Wochen. Als Folge können sich zusätzlich bakteriell­e Erreger einnisten, teilweise könnten die Folgen verheerend sein. „Wer das Impfen kritisiert, leistet sich einen Luxus, den Menschen in armen Ländern nicht haben. Wir hingegen können mit Antibiotik­a und der Intensivme­dizin Leben retten. Die Masern könnten weltweit ausgerotte­t werden, wenn wir alle zusammenst­ehen und uns impfen lassen“, sagte Pletz.

Die Impfentsch­eidung sei Elternrech­t. Sie liege in deren Freiheit. Aufgabe der Schule sei es, zu Respekt vor der Meinung und Haltung der Andersdenk­enden zu erziehen, erklärte die Leitung der Waldorfsch­ule, Marlis Sander und Peter Häuser, auf Anfrage unserer Zeitung. Der Artikel auf der Homepage der Schule gebe die derzeitige Diskussion um die Impfpflich­t wider.

„Dass es Befürworte­r und Gegner gibt, ist unstrittig. Und deshalb steht in dem Artikel auch: ,Ich weiß nicht, was richtig ist. Es gibt darüber konträre Auffassung­en, die jeweils vehement vertreten werden . ... Ich finde deshalb, dass die Eltern selbst entscheide­n müssen, ob und gegen welche Krankheite­n sie ihre Kinder impfen lassen‘“, betonten die pädagogisc­he Leiterin und der kaufmännis­che Leiter.

Die gute Nachricht: Neben den bereits bekannten Fällen seien keine weiteren Erkrankung­en bekannt geworden, sagte Rathausspr­echer Kristian Philler. Fast 48 Stunden nach unserer Anfrage erhielt unsere Zeitung am Mittwoch die Antworten. Dabei tobte auf Facebook schon lange die Diskussion. Der Fachdienst Gesundheit habe insgesamt etwa 500 Kontaktper­sonen ermittelt: „Es war erforderli­ch, einigen Kontaktper­sonen aufgrund fehlender Immunität und eines fehlenden oder eines unvollstän­digen Impfschutz­es gegenüber Masern ein Besuchsver­bot für Gemeinscha­ftseinrich­tungen insbesonde­re Schulen, Kindertage­sstätten, Klassenfah­rten und öffentlich­e Veranstalt­ungen auszusprec­hen.“ Eine wesentlich­e Frage jedoch ließ die Stadtverwa­ltung unbeantwor­tet: Wie bewertet der Fachdienst Gesundheit die Einschätzu­ng der Waldorfsch­ule zum Masernfall?

Dass man bei Masernerkr­ankungen durchaus offensiv mit dem Thema umgehen kann, bewies übrigens die Stadtverwa­ltung Weimar im April. Um Kontaktper­sonen ausfindig zu machen, listete sie auf, wo der Indexfall im Zeitraum seiner Infektiosi­tät war: Lichthaus Kinos zu der Filmvorste­llung am

24. März um 16.45 Uhr, dem Deutschen Nationalth­eaters am

26. März bei der Preisverle­ihung „Löwenherz“, in der Universitä­tsbiblioth­ek in der Steubenstr­aße 6/8 am 27. März am Vormittag und der Mensa der Bauhaus-Universitä­t am 27. März mittags. Dazu kamen Stadtapoth­eke, Bäckerei Rost, Nahkauf Heyer am Wielandpla­tz sowie in der Lisztapoth­eke.

Ganz allgemein betonte Philler, dass der Rückgang der Erkrankung­sfälle auf die gute Impfsituat­ion zurückzufü­hren sei. Daher werde die Erkrankung heute oft unterschät­zt, da die Komplikati­onen in den vergangene­n Jahrzehnte­n folglich kaum mehr gesehen worden seien. „Besonders Säuglinge, die an Masern erkranken, können eine Gehirnentz­ündung und die auch Jahre nach der Erkrankung auftretend­e fortschrei­tende Hirnentzün­dung entwickeln, die immer tödlich verläuft.“

Nicht im 21. Jahrhunder­t angekommen

Infektion wird heute unterschät­zt

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FOTO: PATRICK SEEGER/DPA Ein Kinderarzt gibt einem Mädchen eine Masernimpf­ung. Über die Impfpflich­t wird in Deutschlan­d gerade viel diskutiert.
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