Thüringer Allgemeine (Apolda)

Ist ja nur Papier

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Eigentlich war alles wie immer. Es gab dicke Leberwurst­brötchen und dünnen Kaffee, und wenn die Chefin gute Laune hatte, ließ sich sogar über Spiegeleie­r verhandeln. Es war ein Montag und die Brötchen und der Kaffee und die Eier waren so ziemlich wie am Freitag. Aber sonst war alles anders und auch wir begannen, anders zu werden.

Es ging an diesem Morgen in der Kantine des Berliner Henschelve­rlages ein wenig zu, wie beim ersten Mal, was es ja im Übrigen auch tatsächlic­h war. Wir lächelten alle ein bisschen unsicher, wir machten alle unsere unbeholfen­en Scherze. Dabei, wir hatten nur das Geld für

Brötchen und Kaffee zu bezahlen. Es war Montag, der 2. Juli 1990. Seit dem Vortag hatten wir alle Westgeld und es war das erste Mal, dass wir unser Ost-Frühstück mit Westgeld bezahlten.

Manchmal lächelt das Leben sehr fein: So wie die D-Mark 1949 die deutsche Teilung voranbrach­te, so tat sie es 1989/1990 mit der deutschen Einheit. „Kommt die D-Mark bleiben wir/kommt sie nicht/ geh‘n wir zu ihr“. Auch Lyrik wird mitunter zur materielle­n Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.

Und die Massen waren ziemlich ergriffen, bei nicht wenigen war auch die Hirnmasse angegriffe­n.

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