Höchste Richter erzwingen mehr Klimaschutz
Verfassungsgericht entscheidet: Gesetz der Bundesregierung verletzt die Rechte jüngerer Generationen
Berlin. Der Hof Edenswarf ist ein Familienbetrieb. Familie Backsen betreibt dort Ackerbau, züchtet Rinder, auch Schafe und Katzen gibt es. Noch führen die Eltern Jörg und Silke Backsen das Regiment, doch später wollen die vier Kinder übernehmen. Wenn es dann noch geht. Denn Edenswarf liegt auf der Nordsee-Insel Pellworm. Noch schützen dort Deiche die Bewohner vor dem Wasser – doch wenn mit dem Klimawandel der Meeresspiegel steigt, könnte das nicht mehr reichen.
Die 22-jährige Sophie Backsen und ihre drei jüngeren Brüder haben deshalb mit anderen jungen Menschen die Bundesregierung verklagt. Der Vorwurf ihrer Verfassungsbeschwerde: Das Klimaschutzgesetz, das für 2020 55 Prozent weniger Emissionen im Vergleich zu 1990 vorsieht, schütze sie nicht ausreichend. Am Donnerstag gab der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts den Beschwerden teilweise statt.
Unterstützt von Greenpeace und anderen Organisationen hatten Kläger und Klägerinnen argumentiert, dass der Staat mit den aus ihrer Sicht zu niedrigen Klimazielen seine Schutzpflicht gegenüber ihnen als Bürgern verletzt. Dem folgte das Gericht nicht. Doch es gibt andere Grundrechte, die es verletzt sieht: Das Klimaschutzgesetz sei in der Form, wie es 2019 verabschiedet wurde, nicht mit den Freiheitsrechten der jungen Menschen vereinbar.
Das Gericht pocht auf Generationengerechtigkeit
Die Argumentation: Weil die angestrebten Reduzierungen von Emissionen bis 2030 relativ niedrig sind, wird Deutschland den Großteil seiner Emissionen nach 2030 einsparen müssen. Diese Minderungen müssten dann dringender und kurzfristiger erbracht werden. „Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind.“Klimaschutz ist nach Lesart des Gerichts also eine Frage der Generationengerechtigkeit. Es dürfe nicht einer Generation erlaubt sein, den Großteil des restlichen CO-Budgets zu verbrauchen, wenn die folgenden Generationen dann umfassende Freiheitseinschränkungen hinnehmen müssten, um die Emissionen ausreichend zu senken, argumentiert Karlsruhe.
„Dieses Urteil ist ein Riesenerfolg für die Klimabewegung“, sagte Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer. „Seit heute wissen wir: Wir haben ein Recht auf Zukunft. Klimaschutz ist jetzt ein Grundrecht.“Zugleich sagte Neubauer, dass weitere Klagen folgen könnten. Den Beifall von Regierungsvertretern für das Urteil bezeichnete sie als „scheinheilig“. Bis zur Bundestagswahl
wollen die Aktivisten alles dafür geben, „dass unser Recht auf Klimaschutz in Taten im Hier und Jetzt umgewandelt wird“.
Bislang stehen im Klimaschutzgesetz jährliche Reduktionsziele bis 2030, spätere Ziele sollte die Bundesregierung 2025 per Verordnung regeln. Das sei zu spät, kritisiert das Gericht, auch sei nicht sichergestellt, dass dann festgelegte Ziele weit genug in die Zukunft reichten. Die Regierung muss jetzt nachbessern, bis Ende des nächsten Jahres.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) kündigte an, Eckpunkte für ein weiterentwickeltes Klimaschutzgesetz noch im Sommer vorzulegen. Die Entscheidung sei eine „deutliche Stärkung“für den Klimaschutz, sagte Schulze. Das Bundesverfassungsgericht bestätige den Mechanismus des Klimaschutzgesetzes, der jährlich sinkende Klimaziele vorsieht. Sie erinnerte daran, dass Zwischenziele, wie sie das Gericht jetzt einfordert, im ursprünglichen Entwurf des Klimaschutzgesetzes vorgesehen waren. Damals scheiterten diese aber am Widerstand der Union. Bundesfinanzminister Olaf Scholz hält nach dem Urteil steigende CO2Preise längerfristig für möglich. Zudem sagte er dieser Redaktion, an einem ehrgeizigeren ÖkostromAusbau führe kein Weg vorbei.
Baerbock fordert ein „Klimaschutzsofortprogramm“
Aus der Opposition kommt Druck, nach dem Urteil aktiv zu werden. Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin und Parteichefin der Grünen, forderte ein „Klimaschutzsofortprogramm“mit einem schnelleren Kohleausstieg und einer Verdopplung des Ausbaus erneuerbarer Energien. Zudem sollten ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos zugelassen werden, so Baerbock. FDPVizechef Wolfgang Kubicki sagte, das Gericht zeige auf, dass in der Klimapolitik „endlich eine langfristige Planungssicherheit und klare Vorgaben“nötig seien.
Klägerin Sophie Backsen zeigte sich am Donnerstag „super glücklich und erleichtert“. Die Chancen, dass sie und ihre Geschwister Edenswarf einmal weiterführen werden, dürften sich mit diesem Urteil erhöht haben. (mit gau, tb)