„Amerika ist bereit zum Abheben“
US-Präsident Joe Biden peilt mit gigantisch hohen Summen ein sozialeres und wettbewerbsfähigeres Land an. Republikaner drohen mit Blockade
Washington. Das Wort „kleckern“hat Joe Biden schon lange aus seinem Wortschatz gestrichen. Aber was, fragten sich am Mittwochabend nach der ersten großen Rede des neuen US-Präsidenten vor dem Kongress in Washington viele, ist die Steigerung von „klotzen“? Das Herzstück seiner 65 Minuten langen Ansprache am Vorabend seines 100. Arbeitstages bedeutet nicht weniger als einen Paradigmen-Wechsel. In den Vereinigten Staaten soll das Schimpfwort vom „Big Government“, vom starken KümmererStaat, endgültig ausgemustert werden. „Amerika ist bereit zum Abheben. Wir arbeiten wieder, träumen wieder, entdecken wieder“, betonte der Präsident.
Bidens historischer Dreischlag geht so: Erst das im März verabschiedete Paket im Volumen von 1900 Milliarden Dollar, das vor allem finanzielle Soforthilfen für coronageschädigte Bürger und Unternehmen vorsieht. Bis heute sind bereits 160 Millionen Schecks verschickt worden, sagte Biden. Dann – noch im Planungsstadium – das 2300 Milliarden Dollar umfassende Maßnahmenbündel, mit dem die marode Infrastruktur von Straßen über Häfen und Brücken bis hin zu Wasserleitungen und Energienetzen klimawandelgerecht saniert werden soll. Was Millionen „gut bezahlter Jobs“bringen werde, so der Präsident.
Zum Schluss der mit 1800 Milliarden Dollar ausgestattete „Familien-Plan“, der sozialen Sicherungsnetzen in Europa ähnelt: kostenlose Kita für Drei- und Vierjährige, bedingungsloses Kindergeld, Mutterschutz, zwei Jahre kostenloses Studium an den mit Berufsschulen vergleichbaren „Community Colleges“, Steuernachlässe für Familien, Lohnfortzahlung im Krankheitsoder Pflegefall.
Summa summarum beliefen sich die Investitionen in Menschen und Material über zehn Jahre auf 6000 Milliarden Dollar. Biden bettete sein Plädoyer in die geopolitische Lage ein. Wer das 21. Jahrhundert gegen das „tödlich ernsthaft“um Weltführerschaft ringende China „gewinnen“wolle, müsse eine wettbewerbsfähige Industrie- und Wissensarbeiterschaft schaffen.
Biden hat den Zeitgeist hinter sich, wenn er sagt, Unternehmen und Reiche müssten „einfach nur ihren gerechten Anteil“an der Aufrechterhaltung des Staates zahlen. In Umfragen waren zuletzt 70 Prozent und mehr dafür, dass die Lasten anders verteilt werden. Bei diesen Wählerinnen und Wählern wird verfangen, wenn Biden anmerkt, dass 55 Großunternehmen 2020 keine Steuern gezahlt, aber zusammen 40 Milliarden Dollar Gewinn gemacht hätten. Und dass 650 Superreiche in der CoronaPandemie – zusammengerechnet – 1000 Milliarden Dollar mehr auf ihre Konten gelenkt hätten. Laut CBS-News stimmten 85 Prozent der Zuschauer Bidens Rede zu.
Dass Joe Biden sich nicht mit Erste-Hilfe-Kosmetik in der CoronaKrise begnügt, sondern den Umbau der traditionell auf Eigenverantwortung setzenden USA im Maßstab von Kriegspräsident Franklin D. Roosevelt (1933 bis 1945) anpeilt, liefert der Gegenseite jede Menge Munition. Senator Tim Scott, der für die Republikaner die Gegenrede hielt, sprach von „sozialistischen Träumereien“. Das konservative „Wall Street Journal“urteilte, Biden verfolge das Ziel, Amerika mit einer „Von der Wiege bis zur Bahre“-Regierung zu überziehen, deren Wohltaten wie Drogen „abhängig“machten und Eigeninitiative erstickten.
Karl Rove, Einflüsterer der Regierung
von George W. Bush, behauptet, Bidens Generalkalkulation, seine Programme durch höhere Steuern zu refinanzieren, werde nicht aufgehen. Hier plant Biden nahezu Revolutionäres. Der Spitzensteuersatz für die reichsten Amerikaner soll von 37 auf fast 40 Prozent steigen. Kapitalgewinne bei Einkommen von über einer Million Dollar würden künftig doppelt so hoch taxiert – 39,6 statt 20 Prozent. Wer dagegen unter 400.000 Dollar im Jahr verdient, bekräftigte Biden, bleibe verschont.
Selbst Demokraten haben Vorbehalte gegen eine höhere Kapitalertragsteuer Noch wichtiger als das Murren der Opposition sind die Vorbehalte in den eigenen Reihen. Demokratische Abgeordnete in beiden Kammern fürchten, dass etwa die geplante massive Erhöhung der Kapitalertragsteuer wirtschaftliche Aktivität kappt. Larry Summers, in der demokratischen Regierung von Barack Obama wirtschaftlicher Chefberater, sieht angesichts der geplanten schwindelerregend hohen Staatsausgaben ein veritables Inflationsrisiko.
In dieser Gemengelage zeichnet sich ab, dass Biden angesichts knappster Mehrheit im Kongress seine progressive Agenda ohne schwer auszuhandelnde Kompromisse nicht wird durchsetzen können. Vor allem im Senat darf bei 50:50-Stimmverhältnissen kein Demokrat ausscheren. Andernfalls würde das Zünglein-an-der-WaageVotum von Vize-Präsidentin Kamala Harris neutralisiert. Gegen die nächsten 100 Tage war der Anfang der Präsidentschaft für Joe Biden ein Klacks.
„Firmen und Reiche müssen ihren Anteil an der Aufrechterhaltung des Staates zahlen.“
Joe Biden, US-Präsident