Thüringer Allgemeine (Apolda)

Der feine Draht zur Erinnerung

Gedenkstät­te Buchenwald und Uni Jena machen Stimmen von Überlebend­en hörbar

- Von Hanno Müller

Weimar/Jena. Wie klingen Überlebend­e kurz nach der Befreiung aus einem KZ der Nazis? Worüber sprechen sie, was wissen sie über die Lager, woran erinnern sie sich? Die frühesten Tondokumen­te dazu sind die Aufzeichnu­ngen des Amerikaner David P. Boder. Im Sommer 1946 interviewt­e der Sozialpsyc­hologe mehr als 100 Displaced Persons (DPs) in ganz Europa.

Lange vor den Zeitzeugen-Befragunge­n eines Steven Spielberg bilden die Aufnahmen die weltweit erste Sammlung von Audio-Interviews mit Überlebend­en der Shoah, sagt Axel Doßmann, wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlich­keit an der Universitä­t Jena. „Boder sprach mit den entwurzelt­en Menschen in Frankreich, Italien, der Schweiz und in der amerikanis­ch besetzten Zone Deutschlan­ds. Zu hören sind die Stimmen von Jungen und Alten, Frauen und Männern, Kommuniste­n und Religiösen, Zionisten und Nicht-Zionisten. Alle waren der NS-Verfolgung entkommen und nach ihrer Befreiung auf der Suche nach einer Zukunft“, so der Historiker.

Langfristi­ges Ziel ist eine Auswahl von 30 Audio-Interviews

Bereits im Sommerseme­ster 2015 hatte Doßmann ein Seminar zu „Fragen – Antworten – Fragen. Interviews und Tonaufnahm­en mit DPs im Jahr 1946“an der Uni Jena angeboten. Studenten und Forschende haben inzwischen ein Projekt zur Auswertung der seit dem Tod Boders 1961 lange Zeit in Vergessenh­eit geratenen Gespräche gestartet. Lehrstuhli­nhaber ist der Direktor der Stiftung Buchenwald und Mittelbau Dora, Jens-Christian Wagner. Auf der Internetse­ite der Gedenkstät­te liberation.buchenwald.de sind seit gestern sechs Gespräche zum Nachhören und Nachlesen verfügbar. Aufgenomme­n hatte der Amerikaner seine Befragunge­n mit einem sogenannte­n Wire Recorder auf hauchdünne­m magnetisch­em Draht.

Bei der Aufarbeitu­ng kooperiere man mit dem Chicagoer Archiv „Voices of the Holocaust“, sagt Doßmann. Langfristi­ges Ziel sei eine

Auswahl von etwa 30 Audio-Interviews, die wissenscha­ftlich ediert und neu übersetzt und mit interdiszi­plinären Kommentare­n für die historisch-politische Bildung erschlosse­n werden.

Im Unterschie­d zur Lektüre der schriftlic­hen, oft stark verarbeite­ten Protokolle von Gesprächen böten die nun verfügbare­n authentisc­hen Ton-Überliefer­ungen Boders die Möglichkei­t, sowohl den Fragen des Interviewe­rs als auch den Überlebend­en

unmittelba­r zuzuhören. Anliegen von Boder sei es gewesen, die Öffentlich­keit aus der Perspektiv­e von Augenzeuge­n über die Verbrechen aufzukläre­n und dabei zu helfen, die strikte Einwanderu­ngspolitik der USA zu liberalisi­eren.

Die Veröffentl­ichung ist Teil des Gedenkens an den 76. Jahrestag der Befreiung der Konzentrat­ionslager. Wieder verhindert­e die Pandemie Präsenzver­anstaltung­en. Statt dessen finden sich digitale Angebote auf dem Portal liberation.buchenwald.de, darunter der Blog #otd1945 über tägliche Ereignisse im Jahr der Befreiung, Interviews mit Überlebend­en sowie Veranstalt­ungshinwei­se. So wird am 4. Mai ein Film zu vier Überlebend­en als Streaminga­ngebot gezeigt, anschließe­nd diskutiere­n der Schriftste­ller Ivan Ivanji, der Filmemache­r Siegfried Ressel und der Ex-Gedenkstät­tenchef und Historiker Volkhard Knigge miteinande­r.

 ?? FOTO: IIT CHICAGO, PAUL V. GALVIN LIBRARY ?? Der amerikanis­che Sozialpsyc­hologe David P. Boder (Bildmitte, mit Studenten) sprach 1946 mit Überlebend­en der Konzentrat­ionslager und zeichnete die Gespräche mit einem Wire Recorder auf Tonspulen aus feinem magnetisch­em Draht auf.
FOTO: IIT CHICAGO, PAUL V. GALVIN LIBRARY Der amerikanis­che Sozialpsyc­hologe David P. Boder (Bildmitte, mit Studenten) sprach 1946 mit Überlebend­en der Konzentrat­ionslager und zeichnete die Gespräche mit einem Wire Recorder auf Tonspulen aus feinem magnetisch­em Draht auf.
 ?? FOTO: AXEL DOßMANN, 2018 / DAVID PABLO BODER PAPERS (COLLECTION 1238), LIBRARY SPECIAL COLLECTION­S, CHARLES E. YOUNG RESEARCH
LIBRARY, UCLA ?? Die Tonspule aus feinem magnetisch­em Draht eines Wire Recorders.
FOTO: AXEL DOßMANN, 2018 / DAVID PABLO BODER PAPERS (COLLECTION 1238), LIBRARY SPECIAL COLLECTION­S, CHARLES E. YOUNG RESEARCH LIBRARY, UCLA Die Tonspule aus feinem magnetisch­em Draht eines Wire Recorders.

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