Ältere nehmen Impfrat ernst
2020 mehr Impfungen gegen Pneumokokken
Für Christian Prysok war es ein emotionales Auf und Ab. Endlich die Chance, sich impfen zu lassen, als 27-Jähriger ohne Vorerkrankungen, ohne sonstige Priorisierungsgründe: Über ein Sonderkontingent seiner Heimatstadt Kronach konnte er sich für eine Impfung „bewerben“. Der Grund: eine Inzidenz über 350. Der Impfstoff: von Astrazeneca.
„Als ich von dieser Chance gehört habe, habe ich keinen Moment gezögert“, erzählt Prysok. Dann bekam er einen Termin. Zweifel wuchsen. Seine Mutter machte sich Sorgen, wegen der Nebenwirkungen, ebenso eine gute Freundin. Die Bewertung der Ständigen Impfkommission und Zeitungsartikel nährten die Zweifel. „Ich hatte auch Sorge, mit Astrazeneca ein Geimpfter zweiter Klasse zu sein“, sagt Prysok. Zwischendurch wollte er den Termin bereits wieder absagen, dann las er noch einmal Studien, telefonierte mit dem besten Freund. Der ist gleich alt und überlegte keine Sekunde: „Mach’s!“
„Als ich dann zur Impfung gefahren bin, hatte ich richtig Bock“, erzählt Prysok. „Endlich ein bisschen Entspannung, etwas mehr Sicherheit!“Nebenwirkungen hatte er keine. Ein anderer Freund hat sich nach Prysoks positiven Erfahrungen nun auch impfen lassen.
Durch
Geschichten wie diese könnten mit Blick auf die Impfung verunsicherte Personen Vertrauen zurückgewinnen,
konkrete Fallzahlen,
Vergleichsmaßstäbe erklärt Daniel Heck. Der Psychologieprofessor forscht an der Universität Marburg zu statistischen Methoden und Entscheidungsfindung. Und auch Petra Dickmann, Expertin für Risikokommunikation, bestätigt: „Menschen machen gerne das, was ihr Umfeld tut, Menschen, denen sie vertrauen, die sie mögen, die Expertise und Integrität ausstrahlen.“Statistiken dagegen holten viele laut der Intensivmedizinerin aus Jena emotional schlicht nicht ab.
Hinzu kommt ein weiteres Grundproblem: „Wir Menschen tun uns schwer, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen“, so Heck. Evolutionsbiologisch seien wir nicht dafür gemacht, mit kleinen Zahlen umzugehen. Extrem kleine Wahrscheinlichkeiten würden schlicht überschätzt, erklärt der Psychologe. Man müsse sich nur einmal anschauen, wie viele Menschen trotz der geringen Gewinnchancen Lotto spielten – auch wenn die statistische Kosten-Nutzen-Analyse etwas
Vorbilder, anderes zeige. Ähnlich sei es bei der Impfung mit Astrazeneca, deren Risiko schwerer Nebenwirkungen gering ist – aktuell zwölf Fälle auf knapp fünf Millionen Geimpfte. Das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, liegt ungleich höher. „Mit dem Fahrrad zu fahren, ist noch mal riskanter, das machen die meisten aber einfach trotzdem“, erklärt Heck. „Hier haben wir Vorbilder, das Risiko ist nicht präsent.“
Von den Personen, die sich in Deutschland impfen lassen möchten, würden laut einer Umfrage des Hamburg Center for Health Economics nur zwei Prozent explizit Astrazeneca wählen, die Hälfte der Befragten würde einen anderen Corona-Impfstoff bevorzugen. In Hessen wurden in einigen Regionen bis zu 50 Prozent der Astrazeneca-Impftermine nicht wahrgenommen.
Angstforscher Gerald Hüther kann die Verunsicherung nachvollziehen. „Menschen, die so verängstigt sind, wie die meisten unserer Mitbürger gegenwärtig, können überhaupt keine freie Entscheidung mehr treffen“, erklärt er. „Dass sich manche dann an der Frage des besseren Impfstoffes mit Risikoabwägungen abarbeiten, ist deren Bewältigungsstrategie für diese Angst.“
Auch die 70-Jährige Sabine Keck aus Berlin bekam ein Impfangebot für Astrazenca von ihrer Hausärztin. Nach den vielen negativen Schlagzeilen – Unstimmigkeiten bei Lieferung in der EU, Widersprüchliches zur Studienlage, Gehirnvenenthrombosen, Umbenennung – stand für sie jedoch fest: „Damit lasse ich mich bestimmt nicht impfen.“Die Verunsicherung war zu groß, eine angeborene Blutgerinnungsstörung machte es nicht besser.
Ihre Hausärztin versuchte sie zu beruhigen. Schließlich habe sich Keck auch ohne Bedenken gegen Pneumokokken und Gelbfieber impfen lassen, trotz möglicher Nebenwirkungen. Dass das nicht rational sei, wisse sie, meint die Berlin. „Aber Astrazeneca war für mich wie ein rotes Tuch.“Mittlerweile hat Keck die erste Impfdosis des Biontech-Vakzins erhalten – und auch hier war sie im Vorfeld sehr nervös. Erst kürzlich hatte sie
hier von einem
Bei einer Impfung sind die Risiken präsenter als der Nutzen
Das Problem: Wir lassen uns gesund impfen – als Präventionsmaßnahme. Dadurch seien die Risiken präsenter als der Nutzen, erklärt Entscheidungsforscherin Simone Dohle von der Uni Köln. „Wenn ich bereits krank bin und ein Medikament nehme, um gesund zu werden, blende ich die Nebenwirkungen leichter aus.“Sich das bewusst zu machen, könne helfen.
Ergänzend gibt Dohle zu bedenken, dass wir uns in einer völlig neuen Situation befinden. Dass Impfstoffe in Massenmedien direkt miteinander verglichen werden, gab es bislang nicht. Sie rät daher zu einem Perspektivwechsel. „Die WHO hat bislang rund 300 Impfstoff-Projekte zu Covid-19 dokumentiert“, so Dohle. Nur vier davon hätten es überhaupt geschafft eine Zulassung in der EU zu bekommen. „Wirksamkeit und Sicherheit sind hier also sehr gut“, meint Dohle.
Dass Menschen wie Sabine Keck eine Impfung mit Astrazeneca ablehnen, kann die Psychologin zwar nachvollziehen. „Diese Selbstbestimmung in der Medizin ist extrem wichtig.“Sie appelliert aber an die Solidarität der über 60-Jährigen, für die der Impfstoff von Astrazeneca in Deutschland explizit freigegeben ist. „Impfen ist gerade eine Gemeinschaftsaufgabe“, mahnt Dohle. „Jeder Ältere, der eine Impfung mit Astrazeneca ablehnt und ein anderes Mittel bekommt, nimmt damit einem Jüngeren die Chance, sich frühzeitig impfen zu lassen.“
Berlin. Die Empfehlungen der Experten haben Wirkung gezeigt: Im ersten Halbjahr 2020 haben sich beinahe viermal so viele Menschen ab 60 Jahren gegen Pneumokokken impfen lassen wie im gleichen Zeitraum im Jahr zuvor. Das zeigt eine Auswertung der Techniker Krankenkasse (TK). Demnach ist die Impfquote unter den TK-Versicherten von 1,7 auf 6,6 Prozent gestiegen. Grund für den Anstieg könnte laut TK der Rat aus dem Bundesgesundheitsministerium gewesen sein, sich vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie vor einer Infektion mit den Bakterien zu schützen.
Pneumokokken können schwere Lungenentzündungen verursachen. Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt die Impfung Säuglingen ab zwei Monaten, allen Menschen ab 60 Jahren oder jenen, die unter bestimmten chronischen Erkrankungen leiden. Eine Pneumokokken-Impfung schützt nicht vor einer Covid-19-Erkrankung. Doch können schwere Infektionen eine Behandlung auf der Intensivstation notwendig machen.
„Astrazeneca war für mich wie ein rotes Tuch.“
Sabine Keck, 70-Jährige mit Impfangst