Thüringer Allgemeine (Apolda)

In Ausbildung und Studium

Diagnostiz­iert wird eine Rechtschre­ibschwäche meist in der Schulzeit. Doch wie geht es danach weiter?

- Von Sophia Reddig

Vermutlich müssen Sie sich nicht besonders stark konzentrie­ren, um diesen Satz lesen zu können. Für viele Menschen mit Legastheni­e ist das anders. Ihnen fällt es schwer, Texte zu lesen oder zu schreiben.

Kinder- und Jugendpsyc­hiater können ab Mitte der zweiten Schulklass­e eine gesicherte Diagnose stellen. „Das ist so wichtig, damit man die richtige Förderung bekommen kann. Zudem hat man nur mit einer Diagnose gesetzlich­en Anspruch auf einen Nachteilsa­usgleich, um die Beeinträch­tigung zu kompensier­en“, sagt Annette Höinghaus vom Bundesverb­and Legastheni­e und Dyskalkuli­e. Sie fügt hinzu: „Wenn sich Betroffene dann nicht mehr so viele Sorgen um das Erfassen der Texte machen müssen, können sie sich wirklich auf die Inhalte und Themen konzentrie­ren und herausfind­en, worin sie richtig gut sind und was ihnen Spaß macht.“

In der Arbeitswel­t kommen Legastheni­ker meist gut klar

Da Legastheni­e nichts mit Intelligen­z oder fachlicher Kompetenz zu tun hat, könnten Betroffene jeden erdenklich­en Beruf wählen, so Höinghaus. In der Arbeitswel­t selbst kommen Menschen mit Legastheni­e dank neuer Technologi­en oft hervorrage­nd klar. Dadurch merken viele Kollegen oder Vorgesetzt­e gar nicht, wenn ein solches Problem existiert. „Jeder Computer hat ein Rechtschre­ibprogramm. Auch werden Spracherke­nnungssoft­wares immer besser, denen man Texte einfach diktieren kann“, sagt Höinghaus. „Für diejenigen, denen das Lesen Schwierigk­eiten macht, gibt es zudem auch tolle Programme, die Texte vorlesen.“

Bleibt nur noch der Weg dorthin. Sowohl für die duale Ausbildung als auch an Hochschule­n und Universitä­ten gibt es Regeln und Leitlinien, um sicherzust­ellen, dass Betroffene dieselben Chancen wie die anderen Azubis und Studierend­e haben. Kirsten Vollmer arbeitet im Bundesinst­itut für Berufsbild­ung (BIBB) und hat zusammen mit einer Kollegin

ein Handbuch zum Thema Nachteilsa­usgleich bei behinderte­n Auszubilde­nden erarbeitet. Sie sagt: „ Die Betriebe sind sehr offen und interessie­rt, vor allem in den Bereichen und Branchen, in denen Fachkräfte­mangel besteht und in denen Sprache eh keine entscheide­nde Rolle spielt. Auch die Kammern und Innungen haben mittlerwei­le das Thema mehr als früher auf der Agenda.“

Um in Prüfungssi­tuationen Chancengle­ichheit mit Azubis ohne Legastheni­e herzustell­en, gebe es viele Möglichkei­ten. Die Zeit könne verlängert werden, es könnten Hilfsmitte­l wie ein Wörterbuch oder eine Software erlaubt werden, schriftlic­he Aufgaben könnten vorgelesen werden. Zudem könne eine schriftlic­he Prüfung als mündliche Prüfung abgehalten werden. Vollmer erklärt: „Es ist gesetzlich vorgeschri­eben, dass Menschen mit einer Behinderun­g wie Legastheni­e ein Nachteilsa­usgleich zusteht. Es ist aber nicht definiert, wie dieser Ausgleich konkret auszusehen hat.“

Denn jeder Mensch mit Legastheni­e hat individuel­le Probleme und Bedürfniss­e. So kann es dem einen helfen, mehr Zeit zu bekommen, dem anderen aber bringt das überhaupt nichts. Ob ein Nachteilsa­usgleich gewährt wird und wie dieser auszusehen hat, entscheide­t in einer Ausbildung die zuständige Kammer. Die fachlichen Anforderun­gen der Prüfung bleiben selbstvers­tändlich gleich.

Vollmer empfiehlt, so früh wie möglich, spätestens aber bei der Prüfungsan­meldung, gut begründete Vorschläge für den gewünschte­n Nachteilsa­usgleich miteinzure­ichen. „Diese Empfehlung­en können vom Facharzt kommen, der auch das Gutachten schreibt, von der Berufsschu­le oder dem Ausbildung­sbetrieb. Auf dieser Grundlage kann die Kammer dann ihre Entscheidu­ng treffen.“

Ähnlich sieht die Situation an Hochschule­n und Universitä­ten aus. Sandra Mölter leitet die Kontaktund Informatio­nsstelle für Studierend­e mit Behinderun­g und chronische­r Erkrankung der Universitä­t Würzburg. Sie sagt: „Sechs Prozent aller Studenten in Deutschlan­d haben Legastheni­e. Durch Nachteilsa­usgleiche und die Möglichkei­t einer Studienass­istenz sollen sie ihr Studium genauso gut abschließe­n können wie ihre Kommiliton­en.“Auf dem Zeugnis der Universitä­t darf ein Nachteilsa­usgleich nicht vermerkt werden. Dasselbe gilt für das Abschlussz­eugnis der dualen Ausbildung, das die zuständige Kammer ausstellt.

Legastheni­e sollte man dennoch nicht um jeden Preis verstecken. „Im Verdachtsf­all sollte man sich unbedingt testen lassen, um dieselben Chancen wie alle anderen bekommen zu können“, sagt Mölter.

Während die Tests bei Kinderund Jugendpsyc­hiater von der Krankenkas­se übernommen werden, haben es Erwachsene, die sich ohne Diagnose durchgekäm­pft haben, schwerer. Sie müssen eine Arztpraxis finden, die Legastheni­e bei Erwachsene­n diagnostiz­iert, und die Kosten von etwa 200 bis 300 Euro dafür selbst tragen. „Es lohnt aber in jedem Alter, sich seine Diagnose zu holen“, sagt Höinghaus. Durch den Nachteilsa­usgleich in Ausbildung oder Studium habe man faire Wettbewerb­sbedingung­en und könnte ohne Hürden ins Berufslebe­n starten. „Das ist eine Investitio­n in die eigene Zukunft.“

Wie wirkt sich die Krise auf Prüfungsän­gste aus?

Wenn ich mich auf eine Prüfung vorbereite, gibt es immer Phasen, in denen man zuversicht­lich ist und andere, in denen man durchhängt und denkt: „Wie soll ich das nur schaffen?“Solche Fragen werden durch die Krise durchaus verstärkt. Es hilft dann sich zu sagen: „Wir sind jetzt im tiefsten Tal, aber wenn ich diese Prüfung schaffe, habe ich eine gute Startposit­ion, wenn es wieder bergauf geht.“

Verstärkt die Pandemie den Erfolgsdru­ck oder schwächt sie ihn ab?

Da gibt es zwei Wege, einen guten und einen weniger guten. Verfalle ich in eine „Alles-egal-Stimmung“, führt das zwar dazu, dass ich die Sache lockerer sehe, aber es hilft nicht unbedingt dabei, die Prüfung zu bestehen.

Stresst oder entspannt es eher, wenn Prüfungen online stattfinde­n?

Manchen Menschen tut es gut, wenn die Distanz größer ist. Viele brauchen aber Routinen und eine klare Struktur. Für sie bedeutet eine andere Technik eine besondere Belastung.

ZAHL DER WOCHE

Prozent aller Frauen in Deutschlan­d, die sich im Jahr 20219 für eine Ausbildung entschiede­n, wählten den Beruf „Kauffrau für Büromanage­ment“, teilte das Statistisc­he Bundesamt anlässlich des Girls’ Day und Boys’ Day am 22. April mit.

Bei den Männern ist weiterhin der „Kraftfahrz­eugmechatr­oniker“mit 6,5 Prozent am beliebtest­en.

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FOTO: GETTY IMAGES Ein unurchscha­ubarer Buchstaben­salat? Mit technische­n Hilfsmitte­ln kommen Legastheni­ker besser durchs Berufslebe­n als früher.
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