„Die Leute ersticken in den Autos“
Indien hat sich mit mehr als 400.000 Corona-Neuinfektionen pro Tag zum Zentrum der Pandemie entwickelt
Berlin/Neu-Dehli. Es ist ein Video, das um die Welt geht – und das Corona-Desaster in Indien illustriert. Eine tote Frau sitzt auf dem Motorrad, eingeklemmt zwischen ihrem fahrenden Schwiegersohn und ihrem hinten sitzenden Sohn. Dieser hält seine verstorbene Mutter am Oberschenkel fest, damit sie nicht herunterfällt. Die Szene ereignete sich in der Stadt Kasibugga im Bundesstaat Andhra Pradesh im Südosten Indiens.
Das Video mit der rund 50-Jährigen wird vom US-Epidemiologen Eric Feigl-Ding auf Twitter gepostet. Die Frau habe unter einer Unterversorgung mit Sauerstoff gelitten. schreibt der Arzt. „Wegen der nicht verfügbaren Ambulanz musste die Leiche auf einem Motorrad zu ihrem Dorf transportiert werden.“
Mehr als ein Drittel aller Neuinfektionen weltweit entfallen auf Indien
Am Sonntag verschärfte sich die Krise in Indien weiter. Die Behörden meldeten mit knapp 3700 Toten binnen eines Tages so viele Corona-Opfer wie noch nie. Als weltweit erstes Land registrierte Indien am Samstag und am Sonntag je über 400.000 Neuinfektionen an einem Tag. Mehr als ein Drittel aller Neuansteckungen weltweit entfallen mittlerweile auf Indien.
Krankenhäuser und Krematorien in dem südasiatischen Land mit seinen mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern sind seit Tagen überfüllt. Zum Teil verbrennen die Familien ihre toten Angehörigen auf dem Feld. In zahlreichen Hospitälern sind Betten, medizinischer Sauerstoff und Medikamente knapp.
Der deutsche Botschafter in Indien, Walter Lindner, sprach von „herzzerreißenden Szenen“in dem Land. „Die Leute ersticken zum Teil in den Autos, weil sie vom einen Krankenhaus zum nächsten fahren“, sagte Lindner dem ZDF. Laufend würden Hilfeaufrufe in den sozialen Medien verbreitet – mit der Hoffnung auf ein Krankenhausbett oder Sauerstoff. „Und am nächsten Tag heißt es dann oft: Leider gestorben, niemand hat uns geholfen.“
Nach einem Plan der Regierung sollten sich von diesem Samstag an alle Erwachsenen über 18 impfen lassen können. Mehrere Bundesstaaten berichteten aber, dass ihnen die Impfdosen schon ausgegangen seien. Bislang erhielten weniger als zehn Prozent der Bevölkerung mindestens eine Dosis, schreibt das an die Universität Oxford angedockte Onlineportal One World in Data. Nur etwa zwei Prozent sind demnach vollständig geimpft.
Es rächt sich nun, dass die Pharmazie-Großmacht Indien, die als „Apotheke der Welt“gilt, das eigene Land vernachlässigt hat. Als die Infektionsrate vor wenigen Monaten noch relativ niedrig war, wurden mehr als 60 Millionen Impfdosen exportiert. Die Regierung hat den Ausfuhren mittlerweile einen Riegel vorgeschoben. Doch der Chef des Serum Institute of India, des weltweit größten Herstellers von Vakzinen, gerät immer mehr unter
Druck. Ständig werde er von Politikern und Unternehmern bedrängt, mehr zu liefern, sagte Adar Poonawalla der Londoner „Times“. Sein Institut produziert Astrazeneca.
Der dramatische Anstieg der Infektionszahlen in Indien ist vermutlich auch auf die neue Virusvariante B.1.617 zurückzuführen. Doch auch Massenveranstaltungen trugen dazu bei. So fand Mitte April das weltweit größte Hindu-Fest Kumbh Mela statt. Mehr als 30 Millionen Gläubige kamen, um ein spirituelles Reinigungsbad im Ganges zu nehmen. Maskenpflicht und Hygiene-Abstand: Fehlanzeige. Zudem wurden Wahlkampftreffen mit vielen Tausend Teilnehmern organisiert. Experten hatten vor den Superspreader-Events gewarnt.
Weltweit haben mehr als 40 Länder Hilfe zugesagt. Eine Maschine der Luftwaffe brachte am Samstag 120 Beatmungsgeräte in die Hauptstadt Neu-Delhi. „An Bord ist auch Sanitätsfachpersonal, das den Betrieb einer Anlage zur Herstellung von Sauerstoff vorbereiten soll“, sagte ein Sprecher. Dieses Team umfasse 13 Mitarbeiter. Sie sollen Personal des örtlichen Roten Kreuzes einweisen und dazu 14 Tage im Land bleiben. „Die Welt ist nicht sicher, bis wir alle sicher sind“, sagte Frankreichs Botschafter in Neu-Delhi, Emmanuel Lenain.