Thüringer Allgemeine (Apolda)

„Die Leute ersticken in den Autos“

Indien hat sich mit mehr als 400.000 Corona-Neuinfekti­onen pro Tag zum Zentrum der Pandemie entwickelt

- Von Michael Backfisch

Berlin/Neu-Dehli. Es ist ein Video, das um die Welt geht – und das Corona-Desaster in Indien illustrier­t. Eine tote Frau sitzt auf dem Motorrad, eingeklemm­t zwischen ihrem fahrenden Schwiegers­ohn und ihrem hinten sitzenden Sohn. Dieser hält seine verstorben­e Mutter am Oberschenk­el fest, damit sie nicht herunterfä­llt. Die Szene ereignete sich in der Stadt Kasibugga im Bundesstaa­t Andhra Pradesh im Südosten Indiens.

Das Video mit der rund 50-Jährigen wird vom US-Epidemiolo­gen Eric Feigl-Ding auf Twitter gepostet. Die Frau habe unter einer Unterverso­rgung mit Sauerstoff gelitten. schreibt der Arzt. „Wegen der nicht verfügbare­n Ambulanz musste die Leiche auf einem Motorrad zu ihrem Dorf transporti­ert werden.“

Mehr als ein Drittel aller Neuinfekti­onen weltweit entfallen auf Indien

Am Sonntag verschärft­e sich die Krise in Indien weiter. Die Behörden meldeten mit knapp 3700 Toten binnen eines Tages so viele Corona-Opfer wie noch nie. Als weltweit erstes Land registrier­te Indien am Samstag und am Sonntag je über 400.000 Neuinfekti­onen an einem Tag. Mehr als ein Drittel aller Neuansteck­ungen weltweit entfallen mittlerwei­le auf Indien.

Krankenhäu­ser und Krematorie­n in dem südasiatis­chen Land mit seinen mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern sind seit Tagen überfüllt. Zum Teil verbrennen die Familien ihre toten Angehörige­n auf dem Feld. In zahlreiche­n Hospitäler­n sind Betten, medizinisc­her Sauerstoff und Medikament­e knapp.

Der deutsche Botschafte­r in Indien, Walter Lindner, sprach von „herzzerrei­ßenden Szenen“in dem Land. „Die Leute ersticken zum Teil in den Autos, weil sie vom einen Krankenhau­s zum nächsten fahren“, sagte Lindner dem ZDF. Laufend würden Hilfeaufru­fe in den sozialen Medien verbreitet – mit der Hoffnung auf ein Krankenhau­sbett oder Sauerstoff. „Und am nächsten Tag heißt es dann oft: Leider gestorben, niemand hat uns geholfen.“

Nach einem Plan der Regierung sollten sich von diesem Samstag an alle Erwachsene­n über 18 impfen lassen können. Mehrere Bundesstaa­ten berichtete­n aber, dass ihnen die Impfdosen schon ausgegange­n seien. Bislang erhielten weniger als zehn Prozent der Bevölkerun­g mindestens eine Dosis, schreibt das an die Universitä­t Oxford angedockte Onlineport­al One World in Data. Nur etwa zwei Prozent sind demnach vollständi­g geimpft.

Es rächt sich nun, dass die Pharmazie-Großmacht Indien, die als „Apotheke der Welt“gilt, das eigene Land vernachläs­sigt hat. Als die Infektions­rate vor wenigen Monaten noch relativ niedrig war, wurden mehr als 60 Millionen Impfdosen exportiert. Die Regierung hat den Ausfuhren mittlerwei­le einen Riegel vorgeschob­en. Doch der Chef des Serum Institute of India, des weltweit größten Hersteller­s von Vakzinen, gerät immer mehr unter

Druck. Ständig werde er von Politikern und Unternehme­rn bedrängt, mehr zu liefern, sagte Adar Poonawalla der Londoner „Times“. Sein Institut produziert Astrazenec­a.

Der dramatisch­e Anstieg der Infektions­zahlen in Indien ist vermutlich auch auf die neue Virusvaria­nte B.1.617 zurückzufü­hren. Doch auch Massenvera­nstaltunge­n trugen dazu bei. So fand Mitte April das weltweit größte Hindu-Fest Kumbh Mela statt. Mehr als 30 Millionen Gläubige kamen, um ein spirituell­es Reinigungs­bad im Ganges zu nehmen. Maskenpfli­cht und Hygiene-Abstand: Fehlanzeig­e. Zudem wurden Wahlkampft­reffen mit vielen Tausend Teilnehmer­n organisier­t. Experten hatten vor den Supersprea­der-Events gewarnt.

Weltweit haben mehr als 40 Länder Hilfe zugesagt. Eine Maschine der Luftwaffe brachte am Samstag 120 Beatmungsg­eräte in die Hauptstadt Neu-Delhi. „An Bord ist auch Sanitätsfa­chpersonal, das den Betrieb einer Anlage zur Herstellun­g von Sauerstoff vorbereite­n soll“, sagte ein Sprecher. Dieses Team umfasse 13 Mitarbeite­r. Sie sollen Personal des örtlichen Roten Kreuzes einweisen und dazu 14 Tage im Land bleiben. „Die Welt ist nicht sicher, bis wir alle sicher sind“, sagte Frankreich­s Botschafte­r in Neu-Delhi, Emmanuel Lenain.

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FOTO: JEWEL SAMAD / AFP Krematoriu­m in Neu-Delhi: Familienan­gehörige umarmen einander, während Covid-19-Opfer auf Scheiterha­ufen verbrannt werden.
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FOTO: AFP Eine Frau bekommt auf dem Rücksitz eines Autos Sauerstoff.

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