Thüringer Allgemeine (Apolda)

Die Griechen hoffen auf Baerbock

Die Kanzlerkan­didatin der Grünen gilt als Anti-Merkel: Hart gegen Erdogan, offen für mehr Flüchtling­e – und für einen Dialog über Reparation­en

- Von Gerd Höhler und Michael Backfisch

Athen/Berlin. „Angela geht – kommt jetzt Annalena?“, fragt die griechisch­e Tageszeitu­ng „Kathimerin­i“. Dürften die Griechen eine deutsche Bundeskanz­lerin wählen, Annalena Baerbock hätte beste Chancen. Über die Grünen-Politikeri­n ist in den griechisch­en Medien nur Gutes zu lesen. „Durchsetzu­ngsstark, talentiert und sehr ehrgeizig“, lauten die meistgenan­nten Attribute. Die Sonntagsze­itung „Proto Thema“widmete Baerbock eine Doppelseit­e. Von Baerbocks Erfolgen als jugendlich­e Trampolint­urnerin wissen die Griechen aus ihren Medien inzwischen ebenso wie von ihrem Master in Völkerrech­t an der renommiert­en London School of Economics.

„Deutschlan­d stellt seine wirtschaft­lichen Interessen über die Solidaritä­t mit anderen EU-Mitglieder­n.“George Pagoulatos, Professor an der Wirtschaft­suniversit­ät Athen

Die Kanzlerkan­didatin der Grünen wird in Griechenla­nd als AntiMerkel wahrgenomm­en. Das macht ihre Popularitä­t aus. Denn der Noch-Regierungs­chefin weint in Griechenla­nd kaum jemand eine Träne nach. Während der Schuldenkr­ise in den Jahren 2010 bis 2018 sahen die meisten Griechen in Merkel die treibende Kraft hinter dem, was sie als „Spardiktat“empfanden.

Der maßgeblich von Berlin verordnete Austerität­skurs stürzte Griechenla­nd in die tiefste und längste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Menschen verloren im Durchschni­tt ein Drittel ihrer Einkommen und 40 Prozent ihrer Vermögen. Griechisch­e Zeitungen veröffentl­ichten Fotomontag­en, die Merkel mit Hitlerbärt­chen in einer SS-Uniform zeigten.

Vom Tiefpunkt jener Jahre haben sich die Beziehunge­n zwischen Griechenla­nd und Deutschlan­d nie erholt. „Sie sind heute vermutlich sogar schlechter als während der Schuldenkr­ise“, meint George Pagoulatos, Professor für Europäisch­e Politik und Ökonomie an der Wirtschaft­suniversit­ät Athen. Deutschlan­d

werde als ein Land wahrgenomm­en, „das seine wirtschaft­lichen Interessen über die Solidaritä­t mit anderen EU-Mitglieder­n stellt“.

Das manifestie­rt sich aus griechisch­er Sicht vor allem in der deutschen Türkei-Politik. Merkel gilt als engagierte­ste Fürspreche­rin des türkischen Staatschef­s Recep Tayyip Erdogan in Europa. Seit die Türkei im östlichen Mittelmeer mit ihrer Kriegsmari­ne und Bohrschiff­en den Griechen Erdgasvork­ommen streitig macht, sind die deutschen Rüstungsli­eferungen an Ankara in Griechenla­nd ein ständiges Thema.

Dagegen kommen die Grünen mit ihrer Forderung eines Rüstungsst­opps an die Türkei an. Generell findet die Klare-Kante-Rhetorik von Baerbock & Co. gegenüber Erdogan ungeteilte­n Beifall.

Armin Laschet wird als politische­r Erbe Angela Merkels gesehen Während der Unionsspit­zenmann Armin Laschet in Griechenla­nd als politische­r Erbe Merkels gesehen wird, verspreche­n sich viele Politiker von einer Kanzlerin Baerbock einen Neubeginn. Offiziell äußert die Regierung in Athen im Hinblick auf die Bundestags­wahl keine politische­n Präferenze­n. „Aber wir hoffen natürlich, dass es besser wird“, heißt es in Regierungs­kreisen. Auch die Flüchtling­spolitik der Grünen stößt auf Resonanz. Die Bereitscha­ft, Migranten aus den griechisch­en Insellager­n in Deutschlan­d aufzunehme­n, wird immer wieder hervorgeho­ben.

Ein dritter Punkt, der viele Griechen für die Grünen einnimmt: Die Partei setzte sich zum 80. Jahrestag des Überfalls der Wehrmacht auf Griechenla­nd am 6. April 1941 für eine „erinnerung­spolitisch­e Initiative“ein. Dabei soll über die von der Bundesrepu­blik bisher strikt abgewiesen­en griechisch­en Reparation­sforderung­en gesprochen werden. Was das konkret bedeutet und in welcher Höhe Reparation­en eventuell gezahlt werden sollten, ließen die Grünen allerdings offen.

Mit Ausnahme der 1960 vereinbart­en Entschädig­ungen in Höhe von insgesamt 115 Millionen Mark für bestimmte Opfergrupp­en hat Griechenla­nd nie einen finanziell­en Ausgleich erhalten. Eine Parlaments­kommission in Athen schätzte die Summe für die von Deutschlan­d verursacht­en Kriegsschä­den auf mindestens 289 Milliarden

Die Regierung des heutigen konservati­ven Ministerpr­äsidenten Kyriakos Mitsotakis bekräftigt­e im Januar 2020 noch einmal, dass die Reparation­sfrage für sie offen sei.

Sollten die Grünen Teil der neuen Bundesregi­erung sein, könnte das heikle Thema wieder aktuell werden. Das gilt umso mehr, als die bisherige rechtliche Position Deutschlan­ds alles andere als unangreifb­ar ist. Zu diesem Schluss ist der Wissenscha­ftliche Dienst des Bundestags mehrmals gekommen, zuletzt 2019. Tenor: „Die Position der Bundesregi­erung ist völkerrech­tlich vertretbar, aber keineswegs zwingend.“Annalena Baerbock weiß das.

 ?? FOTO: IMAGO ?? „Durchsetzu­ngsstark, talentiert und sehr ehrgeizig“: Die griechisch­en Medien sehen die grüne Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock überwiegen­d positiv.
FOTO: IMAGO „Durchsetzu­ngsstark, talentiert und sehr ehrgeizig“: Die griechisch­en Medien sehen die grüne Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock überwiegen­d positiv.
 ?? F.: SZ PHOTO ?? Der Überfall der Wehrmacht 1941 ist immer noch ein Thema.
F.: SZ PHOTO Der Überfall der Wehrmacht 1941 ist immer noch ein Thema.

Newspapers in German

Newspapers from Germany