Thüringer Allgemeine (Apolda)

Der lockerste Lockdown in Europa

Madrid meldet hohe Infektions­zahlen – und lässt alle Geschäfte, Restaurant­s und Museen geöffnet. Das lockt auch Touristen an

- Von Gudrun Büscher

Madrid. Mit einem lauten Rumms lässt der Besitzer der kleinen Pizzeria an der Calle Castelló das Rollo vor dem Restaurant heruntersa­usen. Es ist kurz vor 23 Uhr, Sperrstund­e in Madrid. Die Restaurant­besucher haben sich auf den Heimweg gemacht. Als hätte jemand einen Schalter umgestellt, legt sich Stille über die spanische Hauptstadt. Zuvor war kein einziger Tisch frei. Drinnen, draußen – alles geht.

Madrid hat trotz höherer Infektions­zahlen als Berlin den laxesten Lockdown Europas: Alle Geschäfte, Bars, Restaurant­s, die Museen und Theater, selbst die meisten Fitnessclu­bs haben geöffnet. Und nicht nur die Madrider genießen es, die Pandemie bei einer Shoppingto­ur mit anschließe­ndem Glas Wein und ein paar Tapas zu verdrängen. Rund um die Plaza Mayor und im berühmten Prado-Museum wird auffallend viel Französisc­h gesprochen. „Wir wollten ein paar Tage Luft holen“, sagt eine junge Französin am Ticketscha­lter des Museums. „In Paris geht zurzeit gar nichts, hier fühlt es sich fast wie früher an.“Angst, sich anzustecke­n, habe sie nicht, sie seien vorsichtig, meint sie und zieht die Maske ein Stückchen höher. Die nötigen Tests für die Reise sind in Frankreich kostenlos.

Auf den Balearen sind die Lockerunge­n sehr vorsichtig

Wer die hohe Ansteckung­sgefahr ignoriert, stößt in Madrid auf eine Stadt ohne allzu große Restriktio­nen. Die Maske ist obligatori­sch. Sie muss immer getragen werden, darf auch in den Restaurant­s nur zum Essen und Trinken abgenommen werden. In den Innenräume­n der Gaststätte­n wurde die Anzahl der Plätze halbiert, um Abstand halten zu können. Viele Parkplätze vor den Lokalen sind in Terrassen umgewandel­t worden. In der Stadt, in der man früher wählen musste, ob man gut essen oder draußen sitzen will, muss man sich nun nicht mehr entscheide­n – nur eine rechtzeiti­ge Reservieru­ng ist nötig, denn der Andrang ist groß.

Vor allem am Abend und samstags wird es in den Kneipenvie­rteln wie in Chamberí oder in den Modegeschä­ften entlang der Gran Vía oft eng. Abstandhal­ten ist nur schwer möglich. Die Infektions­zahlen in der Hauptstadt­region gehören zu den höchsten in Spanien. In Madrid hält sich die Sieben-Tage-Inzidenz bei rund 180 Fällen pro 100.000 Einwohner. In den Krankenhäu­sern und Intensivst­ationen liegen so viele Covid-19-Patienten wie in wenigen anderen Regionen des Landes. Das hat die konservati­ve Regionalre­gierung aber nicht dazu gebracht, ihre Öffnungspo­litik zu ändern, die sie seit dem monatelang­en Lockdown im Frühjahr 2020 verfolgt; damals war Madrid der Hotspot Spaniens, landesweit waren mehr als 30.000 Tote zu beklagen.

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Jetzt hofft die Regionalpr­äsidentin Isabel Díaz Ayuso, mit dieser Politik zu punkten: Bei den vorgezogen­en Regionalwa­hlen am heutigen 4. Mai zeichnet sich ab, dass ihre konservati­ve PP der große Sieger sein wird. Ayuso hat vor allem die Wirtschaft im Blick und empfiehlt sich als Vorkämpfer­in für die „Freiheit“der Madrider. Sie versucht, sich mit den geöffneten Bars und Restaurant­s gegenüber der Linksregie­rung von Ministerpr­äsident Pedro Sánchez zu profiliere­n, der eine restriktiv­ere Corona-Politik verfolgt. Die meisten Gastwirte in der Hauptstadt feiern Ayusos Politik. Ihr Foto hängt an den Fenstern einiger Lokale, darunter steht: „Vielen Dank, Ayuso.“Die Wahl in Madrid ist zu einer Abstimmung über die Corona-Politik geworden.

Andere Regionen ziehen bei den Öffnungen nach. Obwohl die Inzidenz auf den Balearen auf gut 30 gesunken ist, sind die Lockerunge­n sehr vorsichtig: Die Ausgangssp­erre wurde um eine Stunde verkürzt. Die Innengastr­onomie bleibt geschlosse­n. Bars und Restaurant­s dürfen nun in der Woche draußen auch bis 22.30 Uhr Abendessen servieren.

Für die Gastwirte in Madrid wären solche Lockerunge­n ein Rückschrit­t. Sie empfingen jetzt sogar erste Stierkampf­fans, die aus der größten Arena Spaniens strömten, wo sie sich den ersten Stierkampf seit 19 Monaten angesehen hatten.

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FOTO:GETTYS Die Lokale sind drinnen draußen gut besucht.

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