Thüringer Allgemeine (Apolda)

„Überall sah ich Menschen fliegen“

Ein 30-Jähriger rast im nordhessis­chen Volkmarsen in den Rosenmonta­gszug. Nun steht er wegen 91-fachen Mordversuc­hs vor Gericht. Sein Motiv bleibt nebulös

- Von Jonas Erlenkämpe­r

Kassel. Die Staatsanwa­ltschaft sieht in dem Mammutproz­ess die letzte Chance zur Aufklärung. Maurice P., der 30-jährige Angeklagte, soll endlich erklären, was ihn vor mehr als einem Jahr dazu getrieben hat, mit seinem Wagen absichtlic­h in eine Menschenme­nge zu preschen. Überlebend­e haben immer wieder an den Mann appelliert, sein Motiv öffentlich zu machen – das werde es traumatisi­erten Opfern leichter machen, mit der Autoattack­e abzuschlie­ßen. Doch Maurice P. bleibt stumm. Sein Mandant werde vom Schweigere­cht Gebrauch machen, verkündet der Verteidige­r.

In Kassel begann am Montag die Aufarbeitu­ng eines unfassbare­n Verbrechen­s. Am 24. Februar 2020 steuerte Maurice P. sein Auto in die Zuschauer des Rosenmonta­gsumzugs in der nordhessis­chen Karnevalsh­ochburg Volkmarsen. 90 Personen, darunter viele Kinder, erlitten teils schwere Verletzung­en. Die 172 Seiten umfassende Anklagesch­rift beschreibt, wie er seinen silberfarb­enen Mercedes auf 50 bis 60 Stundenkil­ometer beschleuni­gte und auf die Feiernden zuraste.

Die Ermittler haben keine Zweifel, dass Maurice P. hinter dem

Lenkrad saß – die Beweise sind erdrückend: Das Geschehen wurde gefilmt, es gibt Hunderte Zeugen. Die Generalsta­atsanwalts­chaft Frankfurt wirft ihm 91-fachen versuchten Mord vor, gefährlich­e Körperverl­etzung in 90 Fällen sowie gefährlich­en Eingriff in den Straßenver­kehr. Er habe „planvoll und absichtlic­h“gehandelt, sagt Anklagever­treter Tobias Wipplinger in den Kasseler Messehalle­n, wohin der Prozess wegen des erwarteten großen öffentlich­en Interesses verlegt wurde. Nur die Frage nach dem Warum, die lässt die Ermittler nicht los.

Um kurz nach 9 Uhr führen Justizbeam­te Maurice P. in Fußfesseln in die Halle. Seine schulterla­ngen blonden Haare hat der dickliche Mann zum Pferdeschw­anz gebunden, sein Gesicht verbirgt er hinter einem Aktenordne­r. Vor einigen Jahren soll er zusammen mit seiner Mutter nach Volkmarsen gezogen sein, heißt es. Der Polizei sei er wegen Nötigung und Hausfriede­nsbruch in der Vergangenh­eit bereits aufgefalle­n. Hat er sich unbemerkt radikalisi­ert? Die Auswertung seiner Handydaten und die Durchsuchu­ng seiner Wohnung haben diesen Verdacht nicht erhärtet. „Zu dem Motiv haben die Ermittlung­en zunächst mal nicht ergeben, dass die Tat einen politische­n oder extremisti­schen Ansatz hatte“, so Georg Ungefuk, Sprecher der Generalsta­atsanwalts­chaft. Auch spielten weder Drogen noch Alkohol eine

Rolle. In einem Punkt ist sich die Anklage jedoch sicher: Maurice P. ist schuldfähi­g – und hatte das Ziel, möglichst viele Menschen zu töten.

Karnevalis­ten erleiden schwere Verletzung­en

Das gelang dem von Nachbarn als Sonderling beschriebe­nen Mann nicht – wie durch ein Wunder überlebten alle Passanten den Angriff. Dennoch sind die Folgen der Fahrt dramatisch. Menschen wurden damals durch die Luft geschleude­rt und schlugen auf dem Asphalt auf. Rund eine Dreivierte­lstunde benötigt Wipplinger, um die Verletzung­en der Opfer zu verlesen: Brüche, offene Wunden, Quetschung­en, Traumata, innere Verletzung­en, Gedächtnis­verlust, Koma, Prellungen. 42 Meter war die Schneise der Verwüstung lang, die Maurice P. hinterließ. Er habe „derart beschleuni­gt, dass die Reifen quietschte­n“.

„Überall sah ich Menschen fliegen“, berichtet am Montag der erste Zeuge. Das Auto sei mit einem „Affenzahn“in die Menge gedonnert. Der Prozess wird sich wegen der vielen Zeugen mindestens bis Dezember hinziehen. Sollte Maurice P. sein Schweigen nicht brechen, wird die Frage nach dem Warum jedoch ungeklärt bleiben.

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FOTO: GETTY IMAGES Nach der Amokfahrt von Volkmarsen untersuche­n Einsatzkrä­fte das Tatfahrzeu­g, einen silberfarb­enen Mercedes.
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FOTO: DPA Der Angeklagte verbirgt sein Gesicht hinter einem Ordner.

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