Der Schlaf der Vernunft
Noch nie befanden sich Verstand und Vernunft in einem derart gravierenden Widerspruch
Es gibt Dinge, die wollen gesagt sein, unverstellt, unverborgen, unbedingt. Deshalb wohl schrieb der große spanische Künstler Francisco de Goya seiner berühmten Grafik diesen Satz direkt ins Bild. Ähnlichen Einfluss hatte das, für Künstler eher unübliche Verfahren, wohl nur mit Rene Magrittes „Dies ist keine Pfeife“. Der Satz, den der Spanier dem Blatt Nr. 43 der „Caprichos“einschrieb handelt nicht von der Theorie der Kunst, sondern von der Wirklichkeit des Lebens. Er hallt seit mehr als zwei Jahrhunderten warnend und mahnend durch die Welt – und es gab seither wenig Epochen, die ihn nicht beglaubigt hätten: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Diese Radierung zeigt den Künstler schlafend, halb auf einen Tisch gelehnt, umgeben von merkwürdigen fliegenden Geschöpfen der Nacht, den Ungeheuern. Eines dieser Tiere, eine Eule vielleicht, hat eine der abgelegten Schreibfedern ergriffen, so, als wolle sie sie dem Künstler reichen. Als wolle sie mahnen, es sei nun Zeit zu erwachen, Zeit der Vernunft Kraft und Stimme zu geben. Aber die Vernunft ist, anders als die Zeitgenossen, Goya und Goethe noch hoffen durften, nicht an den allgemeinen Erwerb und die allgemeine Verfügbarkeit von Wissen und Bildung gebunden.
Noch nie in der Geschichte stand dem Menschen ein solches Maß an Informationen zur Verfügung, noch nie gab es eine solch nahezu unlimitierte Möglichkeit, diese Informationen zu verbreiten, zu verarbeiten, zu verstehen. Und noch nie wurde diese Möglichkeit derart verschleudert, noch nie befanden sich Verstand und Vernunft in einem derart gravierenden Widerspruch. Als Verstand, wenn wir einmal absehen von seinem umgangssprachlichen Gebrauch, gilt die Fähigkeit, Sachverhalte, Dinge, Begriffe zu erfassen, durch Beobachtung, durch Erfahrung. Verstand ist die Fähigkeit, Dinge, Zustände zu erkennen. Und Vernunft ist die Fähigkeit, diese Informationen zu verarbeiten, zu nutzen, indem sie in ihrer Bedeutung erkannt werden, indem sie zu Schlussfolgerungen führen, die dann das eigene Handeln bestimmen, ein vernunftgeleitetes, also Zusammenhänge erkennendes und respektierendes Handeln. Und an dieser Stelle verlässt das, was wir Vernunft nennen, die Sphäre der reinen Theorie und wird zur praktischen Vernunft. An dieser Stelle sind wir mitten in unserer Gegenwart.
Es ist erwiesen, das ist eine unbestrittene und allgemein verfügbare Information, dass die Corona-Impfungen nicht gegen Infektion und Weitergabe des Virus schützen, wohl aber mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen einen schweren bis tödlichen Verlauf. Und also die Intensivstationen entlasten, Menschenleben retten. Es ist erwiesen, dass das Risiko einer Schädigung durch die Impfung statistisch signifikant geringer ist als eine Schädigung durch das Virus. Es ist erwiesen, dass der richtige Gebrauch der richtigen Masken einen wirkenden Schutz bedeutet. Es ist erwiesen, dass große Menschenansammlungen, häufig ohne Maske und Abstand, die Verbreitung des Virus beschleunigen. Es ist erwiesen, dass die Pandemie die Wirtschaft und also viele Bürger, nachhaltig schädigt und also den Staat schwächt, der das Vertrauen der Bürger verliert.
Aber dennoch.
Aber dennoch werden Verschwörungstheorien gern genommen, die schäumen, dies sei ein so geheimer wie infamer Plan des Staates, sein Volk zu zerstören. Aber dennoch muss die, einen tatsächlich extremen Einschnitt bedeutende, Maßnahme einer Impfpflicht lange abgelehnt und dann sehr zögerlich diskutiert werden. Aber dennoch sagen viele Bürger, sie lassen sich dieses Zeug nicht spritzen. Schließlich, Geimpfte erkranken auch. Aber dennoch weigern sich viele Bürger, Masken zu tragen und protestieren dagegen. Aber dennoch gibt und gab es Demonstrationen gegen 2G, im Namen der Freiheit. Aber dennoch fanden Fußballspiele
in voll besetzten Stadien statt, 50.000 in Köln, zu großen Teilen ohne Maske. Aber dennoch wollten Oberbürgermeister ihrer Stadt einen Weihnachtsmarkt spendieren, dennoch will die Stadt Erfurt gegen das Verbot ihres grob fahrlässigen Handelns klagen. Aber dennoch findet in Hohenfelden eine „Glitzerwelt“statt, deren Besucher am Wochenende einen kilometerlangen Stau verursachen. Aber dennoch hat die künftige Regierung die „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“aufgehoben. Aber dennoch, und auch: Deshalb, haben wir noch keinen bundesweiten Lockdown. Aber dennoch haben wir noch keine Impfpflicht.
Es sind nicht nur die Bürger, es sind auch die Politiker. Allerdings, sie haben unterschiedliche Gründe. Die Politiker wissen es, sie trauen sich nur nicht – die Menschen, die Rücksicht, die Stimmung. Die Bürger könnten es wissen, aber sie wollen nicht glauben, was sie doch wissen könnten. Und wenn die Fakten so auf sie einstürmen, dass der Glaube erschüttert werden könnte, dann werden sie zu Fake-News erklärt, dann dürfen nur jene Informationen die Wagenburg aus Ignoranz und Dummheit passieren, die den eigenen Glauben befestigen.
Und das ist das Merkwürdige: Im Verhältnis zu der verfügbaren und allgemein bekannten Menge an Wissen, im Verhältnis zu der fast 100 Prozent der Bevölkerung umfassenden Menge an Menschen, die über die Voraussetzungen verfügen, sich dieses Wissen anzueignen: Im Verhältnis dazu gab es wohl nie so viel Ignoranz, so viel Unvernunft, so viel, ja: Dummheit. Dummheit und Vernunft, so scheint es, sind nur bedingt vom Wissen abhängig. Oder vielmehr, es ist eine Art „gefühltes Wissen“, das sich in vielen Mitbürgern Impfskeptikern und Corona-Leugnern durchsetzt. Es gibt, irritierend genug, eine Art von neuem Glauben. Das ist nicht der Glaube an ein politisch oder religiös zu beschreibendes Gedankengebäude, kein Gott oder Mensch steht für das Zentrum dieses Glaubens. Oder doch, einer. Denn es ist der unbeirrbare, der unerschütterliche Glaube an die eigene Unfehlbarkeit. Und dieser häufig mit breitbeiniger Rotzigkeit behauptete Glaube ist, wie jeder Glaube, immunisiert gegen Tatsachen, die nicht in dieses Bild passen. Ein Bild, eine Anschauung von der Welt, die zusammengebastelt wird aus den Wirklichkeitspartikeln, die der eigenen Sicht förderlich sind oder es doch scheinen, aus Informationen, die nicht nach Seriosität und Wahrscheinlichkeit befragt werden, wenn sie nur passen. Diese Informationen werden vom Verstand erfasst, sie werden gierig gespeichert. Aber sie werden nicht von der Vernunft geprüft. Nicht einmal dann, wenn es keiner überdurchschnittlichen intellektuellem Leistung bedürfte, um das zu tun. Die Unvernunft, ließe sich ein bekannter Satz fortschreiben, wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift. Und deshalb befinden wir uns in der Krise.
Denn auch und vor allem wegen dieser Menschen handelte die Politik aller Entscheidungsebenen lange gegen die Vernunft, gegen die Schlussfolgerungen, denen sich eine sachliche Analyse, anders als am Anfang, seit langem nicht mehr verweigern kann. Deshalb wurden Lockerungen sehr schnell beschlossen und Verbote nur sehr zögerlich, deshalb wurde die Notlage von nationaler Bedeutung, und also die damit verbundenen Möglichkeiten der Exekutive, beendet, was dann wieder zu korrigieren ist. Ein Gespenst ging, und geht, um in Deutschlands politischer Klasse, das Gespenst der „Stimmung“. Was eigentlich als ein Zechen von Demokratie gelten kann, ein Zeichen auch von Respekt gegenüber den Menschen, das verkommt in Zeiten der Krise, verstärkt durch den Druck der Wahl, zu opportunistischer Unvernunft. Die verbindet sich, in gewisser Weise, mit der ignoranten Dummheit. Und so gebiert der Schlaf der Vernunft noch immer Ungeheuer.
Und etwas Hoffnung ist bei Bertolt Brecht: „Der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein“. Allerdings, das ist nicht nur Hoffnung, es ist zugleich und zuerst eine Aufforderung zum Handeln, zu praktischer Vernunft.