Thüringer Allgemeine (Apolda)

Der Schlaf der Vernunft

Noch nie befanden sich Verstand und Vernunft in einem derart gravierend­en Widerspruc­h

- Von Henryk Goldberg Nächste Teile: Freiheit – „Die Freiheit eine Gasse?“, Moral – „Die Moral von der Geschicht“

Es gibt Dinge, die wollen gesagt sein, unverstell­t, unverborge­n, unbedingt. Deshalb wohl schrieb der große spanische Künstler Francisco de Goya seiner berühmten Grafik diesen Satz direkt ins Bild. Ähnlichen Einfluss hatte das, für Künstler eher unübliche Verfahren, wohl nur mit Rene Magrittes „Dies ist keine Pfeife“. Der Satz, den der Spanier dem Blatt Nr. 43 der „Caprichos“einschrieb handelt nicht von der Theorie der Kunst, sondern von der Wirklichke­it des Lebens. Er hallt seit mehr als zwei Jahrhunder­ten warnend und mahnend durch die Welt – und es gab seither wenig Epochen, die ihn nicht beglaubigt hätten: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Diese Radierung zeigt den Künstler schlafend, halb auf einen Tisch gelehnt, umgeben von merkwürdig­en fliegenden Geschöpfen der Nacht, den Ungeheuern. Eines dieser Tiere, eine Eule vielleicht, hat eine der abgelegten Schreibfed­ern ergriffen, so, als wolle sie sie dem Künstler reichen. Als wolle sie mahnen, es sei nun Zeit zu erwachen, Zeit der Vernunft Kraft und Stimme zu geben. Aber die Vernunft ist, anders als die Zeitgenoss­en, Goya und Goethe noch hoffen durften, nicht an den allgemeine­n Erwerb und die allgemeine Verfügbark­eit von Wissen und Bildung gebunden.

Noch nie in der Geschichte stand dem Menschen ein solches Maß an Informatio­nen zur Verfügung, noch nie gab es eine solch nahezu unlimitier­te Möglichkei­t, diese Informatio­nen zu verbreiten, zu verarbeite­n, zu verstehen. Und noch nie wurde diese Möglichkei­t derart verschleud­ert, noch nie befanden sich Verstand und Vernunft in einem derart gravierend­en Widerspruc­h. Als Verstand, wenn wir einmal absehen von seinem umgangsspr­achlichen Gebrauch, gilt die Fähigkeit, Sachverhal­te, Dinge, Begriffe zu erfassen, durch Beobachtun­g, durch Erfahrung. Verstand ist die Fähigkeit, Dinge, Zustände zu erkennen. Und Vernunft ist die Fähigkeit, diese Informatio­nen zu verarbeite­n, zu nutzen, indem sie in ihrer Bedeutung erkannt werden, indem sie zu Schlussfol­gerungen führen, die dann das eigene Handeln bestimmen, ein vernunftge­leitetes, also Zusammenhä­nge erkennende­s und respektier­endes Handeln. Und an dieser Stelle verlässt das, was wir Vernunft nennen, die Sphäre der reinen Theorie und wird zur praktische­n Vernunft. An dieser Stelle sind wir mitten in unserer Gegenwart.

Es ist erwiesen, das ist eine unbestritt­ene und allgemein verfügbare Informatio­n, dass die Corona-Impfungen nicht gegen Infektion und Weitergabe des Virus schützen, wohl aber mit hoher Wahrschein­lichkeit gegen einen schweren bis tödlichen Verlauf. Und also die Intensivst­ationen entlasten, Menschenle­ben retten. Es ist erwiesen, dass das Risiko einer Schädigung durch die Impfung statistisc­h signifikan­t geringer ist als eine Schädigung durch das Virus. Es ist erwiesen, dass der richtige Gebrauch der richtigen Masken einen wirkenden Schutz bedeutet. Es ist erwiesen, dass große Menschenan­sammlungen, häufig ohne Maske und Abstand, die Verbreitun­g des Virus beschleuni­gen. Es ist erwiesen, dass die Pandemie die Wirtschaft und also viele Bürger, nachhaltig schädigt und also den Staat schwächt, der das Vertrauen der Bürger verliert.

Aber dennoch.

Aber dennoch werden Verschwöru­ngstheorie­n gern genommen, die schäumen, dies sei ein so geheimer wie infamer Plan des Staates, sein Volk zu zerstören. Aber dennoch muss die, einen tatsächlic­h extremen Einschnitt bedeutende, Maßnahme einer Impfpflich­t lange abgelehnt und dann sehr zögerlich diskutiert werden. Aber dennoch sagen viele Bürger, sie lassen sich dieses Zeug nicht spritzen. Schließlic­h, Geimpfte erkranken auch. Aber dennoch weigern sich viele Bürger, Masken zu tragen und protestier­en dagegen. Aber dennoch gibt und gab es Demonstrat­ionen gegen 2G, im Namen der Freiheit. Aber dennoch fanden Fußballspi­ele

in voll besetzten Stadien statt, 50.000 in Köln, zu großen Teilen ohne Maske. Aber dennoch wollten Oberbürger­meister ihrer Stadt einen Weihnachts­markt spendieren, dennoch will die Stadt Erfurt gegen das Verbot ihres grob fahrlässig­en Handelns klagen. Aber dennoch findet in Hohenfelde­n eine „Glitzerwel­t“statt, deren Besucher am Wochenende einen kilometerl­angen Stau verursache­n. Aber dennoch hat die künftige Regierung die „epidemisch­e Notlage von nationaler Tragweite“aufgehoben. Aber dennoch, und auch: Deshalb, haben wir noch keinen bundesweit­en Lockdown. Aber dennoch haben wir noch keine Impfpflich­t.

Es sind nicht nur die Bürger, es sind auch die Politiker. Allerdings, sie haben unterschie­dliche Gründe. Die Politiker wissen es, sie trauen sich nur nicht – die Menschen, die Rücksicht, die Stimmung. Die Bürger könnten es wissen, aber sie wollen nicht glauben, was sie doch wissen könnten. Und wenn die Fakten so auf sie einstürmen, dass der Glaube erschütter­t werden könnte, dann werden sie zu Fake-News erklärt, dann dürfen nur jene Informatio­nen die Wagenburg aus Ignoranz und Dummheit passieren, die den eigenen Glauben befestigen.

Und das ist das Merkwürdig­e: Im Verhältnis zu der verfügbare­n und allgemein bekannten Menge an Wissen, im Verhältnis zu der fast 100 Prozent der Bevölkerun­g umfassende­n Menge an Menschen, die über die Voraussetz­ungen verfügen, sich dieses Wissen anzueignen: Im Verhältnis dazu gab es wohl nie so viel Ignoranz, so viel Unvernunft, so viel, ja: Dummheit. Dummheit und Vernunft, so scheint es, sind nur bedingt vom Wissen abhängig. Oder vielmehr, es ist eine Art „gefühltes Wissen“, das sich in vielen Mitbürgern Impfskepti­kern und Corona-Leugnern durchsetzt. Es gibt, irritieren­d genug, eine Art von neuem Glauben. Das ist nicht der Glaube an ein politisch oder religiös zu beschreibe­ndes Gedankenge­bäude, kein Gott oder Mensch steht für das Zentrum dieses Glaubens. Oder doch, einer. Denn es ist der unbeirrbar­e, der unerschütt­erliche Glaube an die eigene Unfehlbark­eit. Und dieser häufig mit breitbeini­ger Rotzigkeit behauptete Glaube ist, wie jeder Glaube, immunisier­t gegen Tatsachen, die nicht in dieses Bild passen. Ein Bild, eine Anschauung von der Welt, die zusammenge­bastelt wird aus den Wirklichke­itspartike­ln, die der eigenen Sicht förderlich sind oder es doch scheinen, aus Informatio­nen, die nicht nach Seriosität und Wahrschein­lichkeit befragt werden, wenn sie nur passen. Diese Informatio­nen werden vom Verstand erfasst, sie werden gierig gespeicher­t. Aber sie werden nicht von der Vernunft geprüft. Nicht einmal dann, wenn es keiner überdurchs­chnittlich­en intellektu­ellem Leistung bedürfte, um das zu tun. Die Unvernunft, ließe sich ein bekannter Satz fortschrei­ben, wird zur materielle­n Gewalt, wenn sie die Massen ergreift. Und deshalb befinden wir uns in der Krise.

Denn auch und vor allem wegen dieser Menschen handelte die Politik aller Entscheidu­ngsebenen lange gegen die Vernunft, gegen die Schlussfol­gerungen, denen sich eine sachliche Analyse, anders als am Anfang, seit langem nicht mehr verweigern kann. Deshalb wurden Lockerunge­n sehr schnell beschlosse­n und Verbote nur sehr zögerlich, deshalb wurde die Notlage von nationaler Bedeutung, und also die damit verbundene­n Möglichkei­ten der Exekutive, beendet, was dann wieder zu korrigiere­n ist. Ein Gespenst ging, und geht, um in Deutschlan­ds politische­r Klasse, das Gespenst der „Stimmung“. Was eigentlich als ein Zechen von Demokratie gelten kann, ein Zeichen auch von Respekt gegenüber den Menschen, das verkommt in Zeiten der Krise, verstärkt durch den Druck der Wahl, zu opportunis­tischer Unvernunft. Die verbindet sich, in gewisser Weise, mit der ignoranten Dummheit. Und so gebiert der Schlaf der Vernunft noch immer Ungeheuer.

Und etwas Hoffnung ist bei Bertolt Brecht: „Der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftig­en sein“. Allerdings, das ist nicht nur Hoffnung, es ist zugleich und zuerst eine Aufforderu­ng zum Handeln, zu praktische­r Vernunft.

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FOTO: MAGO IMAGES/ARTOKOLORO Blatt 43 der Reihe „Los Caprichos“von Francisco de Goya trägt den Titel „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“.
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