Thüringer Allgemeine (Apolda)

„Es war wie auf der ,Titanic‘“

Zehn Jahre nach der „Costa Concordia“-Katastroph­e vor der Insel Giglio kämpfen Überlebend­e und Angehörige noch immer mit ihren traumatisc­hen Erlebnisse­n

- Von Micaela Taroni

Giglio. Es ist Ausgehzeit an Bord, viele der rund 3200 Passagiere sitzen beim Dinner im Speisesaal. Einer der Kellner ist der 33-jährige Russell Rebello. Plötzlich knallt es. Das Kreuzfahrt­schiff „Costa Concordia“vibriert, Gläser rutschen von den Tischen. Das 290 Meter lange Schiff neigt sich zur Seite, dann geht das Licht aus. Die „Costa Concordia“hat einen Felsen gerammt, sie kentert. Panik breitet sich aus, man hört Schreie. Rebello hilft Passagiere­n beim Einstieg in die Rettungsbo­ote. In den nächsten Stunden ertrinken 32 Menschen in ihren Kabinen oder beim Versuch, zur nur wenige Hundert Meter entfernten Insel Giglio zu schwimmen. Darunter ist Rebello.

Zehn Jahre später ist sein Bruder nach Giglio gekommen, um Russell Rebellos zu gedenken. Zum heutigen Jahrestag gedenken die Menschen auf der Insel des Unglücks, es wird ein Kranz niedergele­gt. Kevin Rebello, ein Endvierzig­er, der in Mailand lebt, kann nicht abschließe­n mit den dramatisch­en Ereignisse­n. „Es ist ein seltsames Gefühl für mich, wieder auf der Insel zu sein“, findet der gebürtige Inder, der vor Jahren mit seinem Bruder nach Italien ausgewande­rt ist. Auf einmal sind die Erinnerung­en zurück.

Nach der Havarie hatte er auf Giglio wochenlang ausgeharrt und gehofft, man würde die Leiche endlich bergen. Doch sein Bruder blieb verscholle­n. Zwei Monate nach der Tragödie verließ Kevin Rebello die Insel – es sollten fast drei Jahre vergehen, bis die sterbliche­n Überreste des Kellners gefunden wurden. Arbeiter entdeckten sie unter umgekippte­n Möbeln, als sie das Schiff in Genua abwrackten. Russell Rebello war das letzte geborgene Opfer jener Kreuzfahrt-Katastroph­e vom Freitag, 13. Januar 2012.

Auch zwölf Deutsche sind damals gestorben. Die meisten Überlebend­en haben ein Schadeners­atzangebot über 14.000 Euro pro Person angenommen, berichtet der Marler Anwalt Hans Reinhardt (61), der Dutzende Passagiere vor Gericht vertreten hat. Viele schaffen es nicht, die traumatisc­hen Erlebnisse­n zu verarbeite­n, auch zur Gedenkfeie­r ist kaum einer gereist. „Es war wie auf der ,Titanic‘“, erinnern sie sich. „Manche sagen, es käme ihnen vor, als sei das gestern gewesen“, so Reinhardt. Der deutsche Passagier Matthias Hanke (48) schildert in einer neuen Dokumentat­ion des Pay-TV-Senders Sky, wie er sah, dass zwei ältere Frauen in einen Fahrstuhls­chacht gesogen wurden. „Da gab’s einen kurzen, heftigen Schrei von einer von den beiden Damen. Und da waren sie weg.“

Bis heute beschäftig­t der Fall die Justiz. Das liegt an dem Mann, der als einziger ins Gefängnis musste: Kapitän Francesco Schettino, mittlerwei­le 61 Jahre alt. Der unter anderem wegen fahrlässig­er Tötung und fahrlässig­er Körperverl­etzung zu 16 Jahren Haft verurteilt­e Italiener

sitzt in Rom seine Strafe ab. 2018 hatte er beim Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte Beschwerde gegen seine Haft eingelegt, eine Entscheidu­ng könnte dieses Jahr fallen. In der italienisc­hen Zeitung „La Stampa“meldete sich Schettino unlängst über einen Anwalt zu Wort. Auch er sei ein Opfer, er müsse ständig an jene „verdammte Nacht“und die 32 Toten denken. Er fühle sich als Sündenbock: „Man wollte einen Schuldigen finden, nicht die Wahrheit.“

Ein waghalsige­s Manöver geht fürchterli­ch schief

Aus Prestigegr­ünden oder Angeberei wollte Schettino mit der „Costa Concordia“so nah wie möglich an Giglios Felsenküst­e vorbeifahr­en, um den Hafen zu „grüßen“. Doch das ging schief. Schettino wurde später vor allem dafür kritisiert, die „Costa Concordia“als einer der Ersten verlassen zu haben, statt auf dem Schiff zu bleiben und die Evakuierun­g zu organisier­en. „Fare lo Schettino“, den Schettino machen, ist heute in Italien ein geflügelte­s Wort für Feigheit.

Für Kevin Rebello wird es eine emotionale Gedenkfeie­r auf Giglio werden. Er hat seinen Bruder in Indien bestatten lassen – „als Held“, wie er sagt. Nun wolle er noch einmal das Meer sehen, „in dem mein Russell sein Leben verloren hat“. Er sei lange wütend auf den Kapitän gewesen. Aber Wut bringe ihm seinen Bruder nicht zurück.

 ?? FOTO: GIUSEPPE MODESTI / AP ?? Am Abend des 13. Januar 2012 kentert die „Costa Concordia“im Mittelmeer. Eilig werden Rettungsbo­ote ins Wasser gelassen.
FOTO: GIUSEPPE MODESTI / AP Am Abend des 13. Januar 2012 kentert die „Costa Concordia“im Mittelmeer. Eilig werden Rettungsbo­ote ins Wasser gelassen.
 ?? FOTO: PA ?? Das Schiff lag zwei Jahre im Wasser, wurde dann verschrott­et.
FOTO: PA Das Schiff lag zwei Jahre im Wasser, wurde dann verschrott­et.

Newspapers in German

Newspapers from Germany