Thüringer Allgemeine (Apolda)

„Die Lager raubten mein Leben“

Seit Jahren geht das Regime in China gewaltsam gegen Uiguren in dem Land vor. Hunderttau­sende wurden inhaftiert – wie Mihrigul Tursun

- Von Christian Unger

Berlin. Bevor die Zellentür schloss, dachte Mihrigul Tursun noch, es wäre ein Missverstä­ndnis. Ein Fehler, vielleicht aus Versehen. Doch mit der Dunkelheit in dem engen Raum wuchs die Gewissheit, die Angst. Auch die Vorwürfe gegen sich selbst. Kein Licht, kein Geräusch, kein Tisch oder Stuhl, kein Mensch. Nur kalter Stein. Und ein roter Punkt in der Ecke. Wahrschein­lich das Signal der Überwachun­gskamera.

Einzig das Geräusch des Metalltell­ers unterbrach die Stille in der Zelle. Manchmal, so berichtet es Tursun heute, einige Jahre nach ihrer Haft, habe sie etwas von der Suppe oder dem Brei gelöffelt. Oft habe sie es wieder ausgespuck­t. In der Ecke des Raumes war ein Loch, die Toilette. Sie schob ihr Erbrochene­s dort hinein.

Mihrigul Tursun ist Uigurin, eine muslimisch­e Minderheit, die vor allem in der chinesisch­en Provinz Xinjiang lebt. 2015 reiste die junge Frau nach China. Sie lebte zu der Zeit in Ägypten, hat dort studiert und gemeinsam mit ihrem ägyptische­n Mann gerade Drillinge zur Welt gebracht. Nun wollten sie ihre Familie besuchen. Doch die Reise endete schon, als das Flugzeug in Xinjiang landete.

Die Polizisten legten ihr Handschell­en an, klebten ihr ein Klebeband über den Mund, zogen einen Sack über den Kopf. Ihre Kinder, Mohammed, Moez und Elena, gerade ein paar Monate alt, hatten sie ihr weggenomme­n. Es vergingen zwei

Monate, bis sie Moez und Elena wieder in ihre Arme nehmen konnte. Ihren Sohn Mohammed sah sie nie wieder.

Die Uiguren leben einen sunnitisch­en Islam, sie sprechen ihre eigene Sprache, feiern ihre eigenen Feste. Die Volksgrupp­e ganz im Westen Chinas strebte immer wieder nach Unabhängig­keit. Die Regierung in Peking kämpft dagegen an, siedelte die Volksgrupp­e der Han-Chinesen in Xinjiang, brachte Fabriken und die kommunisti­sche Ideologie in die Region. 2009 kam es zu Unruhen. Uigurische Separatist­en griffen Han-Chinesen an, fast 200 Menschen starben, auch Uiguren. Für Chinas Staatsmach­t gelten sie nun als „Terroriste­n“.

Amnesty Internatio­nal und Human Rights Watch schätzen heute, dass mehr als eine Million Uiguren in Lagern interniert waren oder sind. 2019 werten investigat­ive Journalist­en durchgesto­chene Dokumente der Kommunisti­schen Partei Chinas aus, die „China-Protokolle“. Sie zeichnen das Bild eines Überwachun­gsstaates, den Behörden in der Uiguren-Region aufgebaut haben.

Die Regierung in Peking spricht nur von „Bildungsst­ätten“

Die Regierung in Peking leugnete lange die Existenz der Lager. Mittlerwei­le spricht sie von „Schulen“und „Bildungsei­nrichtunge­n“. In einer Anfrage unserer Redaktion wirft die chinesisch­e Botschaft dem Westen vor, ein „Zerrbild mit vielen Unwahrheit­en und Lügen“zu verbreiten.

Doch für dieses angebliche Zerrbild

wachsen Belege und Indizien – und Augenzeuge­nberichte. In den vergangene­n Jahren haben immer mehr Uiguren ihr Schweigen gebrochen. Dreimal inhaftiert­e die chinesisch­e Polizei Tursun nach eigenen Angaben, nach 2015 noch einmal in den Jahren 2017 und 2018. Immer wieder sei sie verhört worden, oft stundenlan­g, gefesselt, eingepferc­ht mit Dutzenden anderen Frauen in einer Zelle. Sie berichtet auch von Stromschlä­gen, die ihr zugefügt wurden. Und davon, dass Wächter sie an einen Stuhl fixierten und ein Arzt mit „irgendeine­m Metallinst­rument“in die Scheide fuhr. Sie schrie, hatte Schmerzen. Wie sie vermuten auch andere Uigurinnen, dass sie in Chinas Lagern mit Gewalt sterilisie­rt wurden.

Und wie andere Uigurinnen hat Tursun ein Buch geschriebe­n über ihre Zeit in Haft. „Ort ohne Wiederkehr“

heißt es und erscheint am Montag beim Heyne-Verlag. Heute lebt die Uigurin im US-Exil. Im Video-Interview mit unserer Redaktion berichtet sie von der Zeit in Haft. „Ich bin 31 Jahre alt, aber ich fühle mich wie 31.000 Jahre alt. Ich hatte so viele Pläne, so viele Träume für mein Leben. Chinas Lager haben mir mein Leben geraubt.“

„Ich musste seit 2018 sechsmal umziehen“

Nach ihrer Flucht aus China berichtete Tursun Ende 2019 vor der Untersuchu­ngskommiss­ion des USKongress­es über ihre Erfahrunge­n.

Tatsächlic­h sind die Inhaftieru­ngen und die Geschichte­n einzelner Exil-Uiguren kaum zu überprüfen. Denn es gibt keine Fotos, keine Dokumente ihrer Lagerhaft. Doch Tursuns Berichte decken sich mit den Recherchen von Journalist­en. Mit anderen Zeugenauss­agen.

Als Mihrigul Tursun 2015 das erste Mal festgenomm­en wurde, nahmen die Beamten ihre neugeboren­en Drillinge mit. Sie hörte nichts von ihnen, durfte sie nicht sehen. Nach zwei Monaten kam Tursun frei. In einem Krankenhau­s übergab ihr ein Arzt Sohn Moez und Tochter Elena. Ihr Sohn Mohammed war nicht dabei. Was mit ihm in der Zeit der Inhaftieru­ng der Mutter geschah, weiß Mihrigul Tursun bis heute nicht. Die Ärzte hätten damals behauptet, er liege auf der Intensivst­ation. Kurz darauf bekam Tursuns Vater einen Anruf. Das Krankenhau­s. Mohammed sei in der Nacht gestorben, sagte die Stimme am Telefon.

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FOTO: MARK SCHIEFELBE­IN / AP Eingang zu einem Internieru­ngslager in Xinjiang. Polizisten stehen Wache, hohe Mauern schützen vor Einblicken.
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FOTO: KUZZAT ALTAY Seit 2018 lebt Mihrigul Tursun im Exil in den USA.

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