„Die Lager raubten mein Leben“
Seit Jahren geht das Regime in China gewaltsam gegen Uiguren in dem Land vor. Hunderttausende wurden inhaftiert – wie Mihrigul Tursun
Berlin. Bevor die Zellentür schloss, dachte Mihrigul Tursun noch, es wäre ein Missverständnis. Ein Fehler, vielleicht aus Versehen. Doch mit der Dunkelheit in dem engen Raum wuchs die Gewissheit, die Angst. Auch die Vorwürfe gegen sich selbst. Kein Licht, kein Geräusch, kein Tisch oder Stuhl, kein Mensch. Nur kalter Stein. Und ein roter Punkt in der Ecke. Wahrscheinlich das Signal der Überwachungskamera.
Einzig das Geräusch des Metalltellers unterbrach die Stille in der Zelle. Manchmal, so berichtet es Tursun heute, einige Jahre nach ihrer Haft, habe sie etwas von der Suppe oder dem Brei gelöffelt. Oft habe sie es wieder ausgespuckt. In der Ecke des Raumes war ein Loch, die Toilette. Sie schob ihr Erbrochenes dort hinein.
Mihrigul Tursun ist Uigurin, eine muslimische Minderheit, die vor allem in der chinesischen Provinz Xinjiang lebt. 2015 reiste die junge Frau nach China. Sie lebte zu der Zeit in Ägypten, hat dort studiert und gemeinsam mit ihrem ägyptischen Mann gerade Drillinge zur Welt gebracht. Nun wollten sie ihre Familie besuchen. Doch die Reise endete schon, als das Flugzeug in Xinjiang landete.
Die Polizisten legten ihr Handschellen an, klebten ihr ein Klebeband über den Mund, zogen einen Sack über den Kopf. Ihre Kinder, Mohammed, Moez und Elena, gerade ein paar Monate alt, hatten sie ihr weggenommen. Es vergingen zwei
Monate, bis sie Moez und Elena wieder in ihre Arme nehmen konnte. Ihren Sohn Mohammed sah sie nie wieder.
Die Uiguren leben einen sunnitischen Islam, sie sprechen ihre eigene Sprache, feiern ihre eigenen Feste. Die Volksgruppe ganz im Westen Chinas strebte immer wieder nach Unabhängigkeit. Die Regierung in Peking kämpft dagegen an, siedelte die Volksgruppe der Han-Chinesen in Xinjiang, brachte Fabriken und die kommunistische Ideologie in die Region. 2009 kam es zu Unruhen. Uigurische Separatisten griffen Han-Chinesen an, fast 200 Menschen starben, auch Uiguren. Für Chinas Staatsmacht gelten sie nun als „Terroristen“.
Amnesty International und Human Rights Watch schätzen heute, dass mehr als eine Million Uiguren in Lagern interniert waren oder sind. 2019 werten investigative Journalisten durchgestochene Dokumente der Kommunistischen Partei Chinas aus, die „China-Protokolle“. Sie zeichnen das Bild eines Überwachungsstaates, den Behörden in der Uiguren-Region aufgebaut haben.
Die Regierung in Peking spricht nur von „Bildungsstätten“
Die Regierung in Peking leugnete lange die Existenz der Lager. Mittlerweile spricht sie von „Schulen“und „Bildungseinrichtungen“. In einer Anfrage unserer Redaktion wirft die chinesische Botschaft dem Westen vor, ein „Zerrbild mit vielen Unwahrheiten und Lügen“zu verbreiten.
Doch für dieses angebliche Zerrbild
wachsen Belege und Indizien – und Augenzeugenberichte. In den vergangenen Jahren haben immer mehr Uiguren ihr Schweigen gebrochen. Dreimal inhaftierte die chinesische Polizei Tursun nach eigenen Angaben, nach 2015 noch einmal in den Jahren 2017 und 2018. Immer wieder sei sie verhört worden, oft stundenlang, gefesselt, eingepfercht mit Dutzenden anderen Frauen in einer Zelle. Sie berichtet auch von Stromschlägen, die ihr zugefügt wurden. Und davon, dass Wächter sie an einen Stuhl fixierten und ein Arzt mit „irgendeinem Metallinstrument“in die Scheide fuhr. Sie schrie, hatte Schmerzen. Wie sie vermuten auch andere Uigurinnen, dass sie in Chinas Lagern mit Gewalt sterilisiert wurden.
Und wie andere Uigurinnen hat Tursun ein Buch geschrieben über ihre Zeit in Haft. „Ort ohne Wiederkehr“
heißt es und erscheint am Montag beim Heyne-Verlag. Heute lebt die Uigurin im US-Exil. Im Video-Interview mit unserer Redaktion berichtet sie von der Zeit in Haft. „Ich bin 31 Jahre alt, aber ich fühle mich wie 31.000 Jahre alt. Ich hatte so viele Pläne, so viele Träume für mein Leben. Chinas Lager haben mir mein Leben geraubt.“
„Ich musste seit 2018 sechsmal umziehen“
Nach ihrer Flucht aus China berichtete Tursun Ende 2019 vor der Untersuchungskommission des USKongresses über ihre Erfahrungen.
Tatsächlich sind die Inhaftierungen und die Geschichten einzelner Exil-Uiguren kaum zu überprüfen. Denn es gibt keine Fotos, keine Dokumente ihrer Lagerhaft. Doch Tursuns Berichte decken sich mit den Recherchen von Journalisten. Mit anderen Zeugenaussagen.
Als Mihrigul Tursun 2015 das erste Mal festgenommen wurde, nahmen die Beamten ihre neugeborenen Drillinge mit. Sie hörte nichts von ihnen, durfte sie nicht sehen. Nach zwei Monaten kam Tursun frei. In einem Krankenhaus übergab ihr ein Arzt Sohn Moez und Tochter Elena. Ihr Sohn Mohammed war nicht dabei. Was mit ihm in der Zeit der Inhaftierung der Mutter geschah, weiß Mihrigul Tursun bis heute nicht. Die Ärzte hätten damals behauptet, er liege auf der Intensivstation. Kurz darauf bekam Tursuns Vater einen Anruf. Das Krankenhaus. Mohammed sei in der Nacht gestorben, sagte die Stimme am Telefon.