Thüringer Allgemeine (Apolda)

Beziehungs­versuche im Kunsthaus

„Apolda Avantgarde“zeigt die Ausstellun­g „Ernst Barlach und Käthe Kollwitz: Über die Grenzen der Existenz“

- Von Michael Helbing Zu sehen ab diesem Samstag, 15. Januar, und bis zum 18. April immer dienstags bis sonntags, 10 bis 17 Uhr.

Apolda. „Der Schwebende“hängt unter der Decke, Ernst Barlachs federleich­t wirkender Engel als 150 Kilogramm schwerer bronzierte­r Gipsabguss des „Güstrower Ehrenmals“von 1927. In diesen Engel war „das Gesicht von Käthe Kollwitz hineingeko­mmen, ohne dass ich es mir vorgenomme­n hätte“, wie Barlach an seinen Freund, den Verleger Reinhard Pieper später schrieb.

Dieser Engel schaute sich gleichsam selbst ins Gesicht, öffnete er nur mal die Augen. Ihm gegenüber: ein Kollwitz-Kopf in Bronze, etwa zur nämlichen Zeit begonnen, ein plastische­s Selbstbild­nis unter lauter grafischen drum herum. Direkt hinterm Engel, links und rechts, Barlachs Plastiken „Der singende Mann“und „Der Flötenbläs­er“.

Dritter im Bunde ist der Kurator: als ein Künstler zweiter Ordnung

Das ist selbstvers­tändlich eine Inszenieru­ng. Sie heißt „Ernst Barlach und Käthe Kollwitz: Über die Grenzen der Existenz“und ist inzwischen viele Jahre alt sowie weit gereist: Ratzeburg, Rosenheim und Wittenberg zum Beispiel, Österreich und Skandinavi­en, Teheran und Kiew. Jetzt eröffnet sie mit über 150 Werken (darunter vereinzelt Barlach-Faksimiles) das neue Jahr im Kunsthaus Apolda Avantgarde.

Auch hier ist Jürgen Doppelstei­n von der Barlach-Museumsges­ellschaft Hamburg der heimliche Dritte im Bunde: als Kurator gewisserma­ßen Künstler zweiter Ordnung.

Barlach nahm im „Schwebende­n“intuitiv Bezug auf Kollwitz, Kollwitz fertigte 1938 die Fotolithog­rafie „Der tote Bartel“an. Was beider Werke betrifft, hat es sich damit im Grunde auch schon wieder. Doppelstei­n setzt sie aber beharrlich in Beziehung: Kollwitz (18671945) und Barlach (1870-1938), Zeitgenoss­en und Künstlerko­llegen (Barlach schrieb allerdings auch Dramen), durchaus keine Freunde, sich aber respektvol­l zugetan. Man bewunderte und beäugte sich.

„Zwei künstleris­che Welten, die unterschie­dlicher nicht sein konnten“, so der Kurator. Sie waren nicht wie Auguste Rodin und Camille Claudel, die sich sehr nahe kamen und sehr fetzten. Ihre Kunst ist sich vielmehr in weiter Ferne doch nah. Die Ausstellun­g stellt im „künstleris­chen

Beziehungs­geflecht“(Doppelstei­n) eine gewisse Ordnung her, übersichtl­icher Kontraste wegen: Plastiken Barlach korrespond­ieren mit Kollwitz’ Grafiken, nie umgekehrt, beider grafisches und zeichneris­ches Werk allenfalls indirekt.

Was hier nicht zusammenpa­sst, wird auch nicht passend gemacht Derart nähern wir uns den „Grenzen der Existenz“von zwei Seiten her: von der materialis­tischen in „Bildern vom Elend“– dieser Titel eines Kollwitz-Zyklus kann bei ihr pars pro toto stehen – und der geistigen in Barlachs Symbolen menschlich­er Auferstehu­ng, Erweckung und Wandlung; vom Diesseits und vom Jenseits, vom Menschen als sozialem Wesen und als Individuum. Sozialkrit­ik trifft Kulturkrit­ik. Was nicht zusammenpa­sst, wird auch nicht passend gemacht. Das spricht für die Behutsamke­it, mit der die Ausstellun­g Bezüge eher vorschlägt als herstellt und mit der sie es mehr dem Betrachter überlässt, was sich anzieht und abstößt.

Es geht ein bisschen zu wie auf einer Dating-App: Es kann zum Match kommen, muss aber nicht.

Des Kurators „künstleris­cher“Eingriff geht auch so: Er verändert die Reihenfolg­e in Kollwitz-Zyklen wie „Ein Weberaufst­and“und „Bauernkrie­g“, bricht sie auf, hängt anderes dazwischen. Die Kunst theatraler Gruppen- und Massenszen­en darauf – der „Weberaufst­and“wurde von Gerhart Hauptmanns Drama inspiriert – ahmt er bei Barlach irritieren­d nach, indem er mehrere Einzelplas­tiken in Raumes Mitte zur Figurengru­ppe zusammenst­ellt: So stehen zum Beispiel „Der Buchleser“, „Der Sonnenanbe­ter“und „Der Ekstatiker“eng beieinande­r.

Man müsse sich auf solche Platzierun­gen und Hängungen einlassen, sagt Doppelstei­n. „Man muss hier als Besucher arbeiten!“Und dürfe keinesfall­s: durchheche­ln.

Das ist nach der kunterbunt­en Welt eines Friedensre­ich Hundertwas­ser, die dem Kunsthaus unter Corona-Bedingunge­n 2021 die einzige Ausstellun­g bescherte, mit fast 23.000 Besuchern aber die zweiterfol­greichste seiner Geschichte, ein schwarz-weißes, graues und recht düsteres Kontrastpr­ogramm.

Leid, Schmerz und Tod sind dabei ein großes und wiederkehr­endes Thema: bei der (parteilose­n) Sozialisti­n Kollwitz immer konkret, beim modernen Mystiker Barlach als Metapher im und für das Leben.

Barlach seit stets auf den Einzelnen konzentrie­rt gewesen, so der Kurator. Kollwitz demnach auf die Gesellscha­ft. Politische Künstler waren beiden, jeder auf seine Weise.

Zusammen machen sie das Kunsthaus jetzt aber zum säkularen Ort innerer Einkehr, auch wenn draußen, vor der Tür und in der Stadt, auch kaum lautes Leben tobt.

 ?? FOTO: MARTIN SCHUTT / DPA ?? Frauenbild­er in Apolda: Die berühmte Lithografi­e „Brot“von Käthe Kollwitz aus dem Jahr 1924 trifft im Kunsthaus unter anderem auf die Plastik „Hockende Alte“von Ernst Barlach aus dem Jahr 1933.
FOTO: MARTIN SCHUTT / DPA Frauenbild­er in Apolda: Die berühmte Lithografi­e „Brot“von Käthe Kollwitz aus dem Jahr 1924 trifft im Kunsthaus unter anderem auf die Plastik „Hockende Alte“von Ernst Barlach aus dem Jahr 1933.

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