Beziehungsversuche im Kunsthaus
„Apolda Avantgarde“zeigt die Ausstellung „Ernst Barlach und Käthe Kollwitz: Über die Grenzen der Existenz“
Apolda. „Der Schwebende“hängt unter der Decke, Ernst Barlachs federleicht wirkender Engel als 150 Kilogramm schwerer bronzierter Gipsabguss des „Güstrower Ehrenmals“von 1927. In diesen Engel war „das Gesicht von Käthe Kollwitz hineingekommen, ohne dass ich es mir vorgenommen hätte“, wie Barlach an seinen Freund, den Verleger Reinhard Pieper später schrieb.
Dieser Engel schaute sich gleichsam selbst ins Gesicht, öffnete er nur mal die Augen. Ihm gegenüber: ein Kollwitz-Kopf in Bronze, etwa zur nämlichen Zeit begonnen, ein plastisches Selbstbildnis unter lauter grafischen drum herum. Direkt hinterm Engel, links und rechts, Barlachs Plastiken „Der singende Mann“und „Der Flötenbläser“.
Dritter im Bunde ist der Kurator: als ein Künstler zweiter Ordnung
Das ist selbstverständlich eine Inszenierung. Sie heißt „Ernst Barlach und Käthe Kollwitz: Über die Grenzen der Existenz“und ist inzwischen viele Jahre alt sowie weit gereist: Ratzeburg, Rosenheim und Wittenberg zum Beispiel, Österreich und Skandinavien, Teheran und Kiew. Jetzt eröffnet sie mit über 150 Werken (darunter vereinzelt Barlach-Faksimiles) das neue Jahr im Kunsthaus Apolda Avantgarde.
Auch hier ist Jürgen Doppelstein von der Barlach-Museumsgesellschaft Hamburg der heimliche Dritte im Bunde: als Kurator gewissermaßen Künstler zweiter Ordnung.
Barlach nahm im „Schwebenden“intuitiv Bezug auf Kollwitz, Kollwitz fertigte 1938 die Fotolithografie „Der tote Bartel“an. Was beider Werke betrifft, hat es sich damit im Grunde auch schon wieder. Doppelstein setzt sie aber beharrlich in Beziehung: Kollwitz (18671945) und Barlach (1870-1938), Zeitgenossen und Künstlerkollegen (Barlach schrieb allerdings auch Dramen), durchaus keine Freunde, sich aber respektvoll zugetan. Man bewunderte und beäugte sich.
„Zwei künstlerische Welten, die unterschiedlicher nicht sein konnten“, so der Kurator. Sie waren nicht wie Auguste Rodin und Camille Claudel, die sich sehr nahe kamen und sehr fetzten. Ihre Kunst ist sich vielmehr in weiter Ferne doch nah. Die Ausstellung stellt im „künstlerischen
Beziehungsgeflecht“(Doppelstein) eine gewisse Ordnung her, übersichtlicher Kontraste wegen: Plastiken Barlach korrespondieren mit Kollwitz’ Grafiken, nie umgekehrt, beider grafisches und zeichnerisches Werk allenfalls indirekt.
Was hier nicht zusammenpasst, wird auch nicht passend gemacht Derart nähern wir uns den „Grenzen der Existenz“von zwei Seiten her: von der materialistischen in „Bildern vom Elend“– dieser Titel eines Kollwitz-Zyklus kann bei ihr pars pro toto stehen – und der geistigen in Barlachs Symbolen menschlicher Auferstehung, Erweckung und Wandlung; vom Diesseits und vom Jenseits, vom Menschen als sozialem Wesen und als Individuum. Sozialkritik trifft Kulturkritik. Was nicht zusammenpasst, wird auch nicht passend gemacht. Das spricht für die Behutsamkeit, mit der die Ausstellung Bezüge eher vorschlägt als herstellt und mit der sie es mehr dem Betrachter überlässt, was sich anzieht und abstößt.
Es geht ein bisschen zu wie auf einer Dating-App: Es kann zum Match kommen, muss aber nicht.
Des Kurators „künstlerischer“Eingriff geht auch so: Er verändert die Reihenfolge in Kollwitz-Zyklen wie „Ein Weberaufstand“und „Bauernkrieg“, bricht sie auf, hängt anderes dazwischen. Die Kunst theatraler Gruppen- und Massenszenen darauf – der „Weberaufstand“wurde von Gerhart Hauptmanns Drama inspiriert – ahmt er bei Barlach irritierend nach, indem er mehrere Einzelplastiken in Raumes Mitte zur Figurengruppe zusammenstellt: So stehen zum Beispiel „Der Buchleser“, „Der Sonnenanbeter“und „Der Ekstatiker“eng beieinander.
Man müsse sich auf solche Platzierungen und Hängungen einlassen, sagt Doppelstein. „Man muss hier als Besucher arbeiten!“Und dürfe keinesfalls: durchhecheln.
Das ist nach der kunterbunten Welt eines Friedensreich Hundertwasser, die dem Kunsthaus unter Corona-Bedingungen 2021 die einzige Ausstellung bescherte, mit fast 23.000 Besuchern aber die zweiterfolgreichste seiner Geschichte, ein schwarz-weißes, graues und recht düsteres Kontrastprogramm.
Leid, Schmerz und Tod sind dabei ein großes und wiederkehrendes Thema: bei der (parteilosen) Sozialistin Kollwitz immer konkret, beim modernen Mystiker Barlach als Metapher im und für das Leben.
Barlach seit stets auf den Einzelnen konzentriert gewesen, so der Kurator. Kollwitz demnach auf die Gesellschaft. Politische Künstler waren beiden, jeder auf seine Weise.
Zusammen machen sie das Kunsthaus jetzt aber zum säkularen Ort innerer Einkehr, auch wenn draußen, vor der Tür und in der Stadt, auch kaum lautes Leben tobt.