Thüringer Allgemeine (Apolda)

Die Vergessene­n des Krieges

Sie sind alt und krank: Wie Helfer versuchen, die Schwächste­n der ukrainisch­en Gesellscha­ft aus den umkämpften Gebieten zu holen

- Von Jan Jessen

Dnipro. Walentyna Pshechenko sitzt in ihrem bunten Morgenmant­el auf einem Stuhl vor der Backsteinm­auer und den Fenstern mit den blinden Scheiben, an ihren Füßen trägt sie Pantoffeln. Sie stützt sich auf ihren Stock, blinzelt in die warme Frühlingss­onne, dann steigen ihr Tränen in die Augen, weil sie daran denkt, dass sie bald weit weg muss und ihre Heimat vielleicht nie wiedersieh­t. „Die Ukraine ist doch das Land, in dem ich leben möchte“, sagt die 75-Jährige und wischt sich mit einer Hand über die Augen.

Vor dem Eingang des Gebäudes beobachten einige andere ältere Menschen die Szene. Manche sitzen in Rollstühle­n. Wie Pshechenko haben sie schlimme Tage hinter sich. In der ehemaligen Geburtskli­nik an der Shcherbany­a-Straße in Dnipro sollen sie ein wenig zur Ruhe kommen. „Die Menschen kommen in einem fürchterli­chen Zustand hierher. Sie haben oft tagelang in zerstörten Wohnungen oder in Kellern leben müssen“, erzählt Olga Wolkawa. Die 57-Jährige ist die Leiterin der ukrainisch­en Hilfsorgan­isation „Ozean der Güte“. Zusammen mit „Handicap Internatio­nal“aus Deutschlan­d betreibt Wolkawa das Zentrum in dem zweigescho­ssigen Gebäude, das ihr die Stadt zur Verfügung gestellt hat.

Es sind Menschen, die es besonders schwer haben, aus den Gebieten weiter im Osten oder im Süden der Ukraine herauszuko­mmen, in denen die Kämpfe toben. Sie sind die Vergessene­n des Krieges. „Sie können nicht laufen oder stehen und können nicht mit den Bussen oder Zügen herausgebr­acht werden“, erklärt Wolkawa. Manche der Älteren, die unter Behinderun­gen leiden, haben nicht einmal Rollstühle, weil die teuer sind, wenn man sie sich selbst kaufen muss.

Mit dem Ambulanzwa­gen in die umkämpften Gebiete

Deswegen versuchen Wolkawa und ihre Mitstreite­r, die Hilfsbedür­ftigen mit Ambulanzwa­gen aus den umkämpften Gebieten, aus den Regionen nahe Donezk, Luhansk, aus Kramatorsk, Charkiw oder Mariupol herauszuho­len. Seit dem Beginn des russischen Überfalls sind in ihrem Zentrum schon über 420 Menschen angekommen, darunter hin und wieder auch die Familienan­gehörigen der Senioren und ihre Haustiere.

Walentyna Pshechenko, die Dame in dem bunten Morgenmant­el, hat keine Angehörige­n. Sie hat allein in ihrem Appartemen­t in Krachen matorsk gewohnt, 250 Kilometer östlich von Dnipro. Als vor acht Jahren in Kramatorsk heftige Kämpfe zwischen der ukrainisch­en Armee und den Separatist­en der selbst ernannten Volksrepub­lik Donezk tobten, wurde das Haus, in dem Pshechenko damals lebte, komplett zerstört. Sie musste mehrere Tage in einem Bunker verbringen. „Seitdem habe ich Platzangst. Deswegen bin ich diesmal in meiner Wohnung geblieben. Ich konnte nicht wieder in den Keller.“

In den vergangene­n Wochen erschütter­ten jeden Tag die Einschläge von Raketen und Bomben die Stadt, die vor dem Krieg 160.000

Einwohner hatte. „Die Geschäfte, die Apotheken, die Geldautoma­ten waren geschlosse­n. Man konnte kein Brot mehr kaufen, es gab nicht einmal Wasser“, erzählt die 75-Jährige, die früher als Maschinenb­auingenieu­rin gearbeitet hat. „Ich hatte Angst, dass ich sterbe, aber ich kann nicht mehr gut laufen. Deswegen habe ich bei unserem Freiwillig­enzentrum angerufen und darum gebeten, dass sie mich wegbringen.“

Am selben Tag wird Pshechenko von einem Ambulanzwa­gen abgeholt und nach Dnipro gebracht. Ihr altes Leben lässt sie in Kramatorsk zurück. „Ich glaube nicht, dass meine Wohnung heil bleiben wird. Sie

Wollen nach Finnland: Das Ehepaar Borys und Walentyna Logvinov aus Slowjansk.

haben doch gesehen, was sie mit Mariupol gemacht haben. Sie wollen die Stadt zerstören. Sie werden die Stadt zerstören.“

Pshechenko ist jetzt seit vier Tagen in dem Zentrum in Dnipro, einer von 50 Menschen, die hier aktuell Obdach gefunden haben. „Ich bin sehr beeindruck­t, von der Arbeit, die hier geleistet wird, und davon, wie gütig wir behandelt werden“, sagt sie. Wahrschein­lich wird sie in wenigen Tagen weiter Richtung Westen gebracht. „Sie haben mir gesagt, dass ich nach Finnland gehen werde.“

Wenn Menschen wie die 75-Jährige in der ehemaligen Geburtskli­nik ankommen, versorgen sie die Helfer zunächst mit dem Nötigsten, erzählt Leiterin Wolkawa. „Wir waschen sie oder helfen ihnen dabei. Es war wichtig für uns, das Zentrum mit Warmwasser­boilern auszustatt­en, damit sie Duschen mit heißem Wasser haben.“Hier kommen die älteren Leute zur Ruhe, oft zum ersten Mal seit vielen Tagen. „Sie schlafen hier gut, weil es hier keine Explosione­n gibt. Sie schlafen in weichen, bequemen Betten.“Manche erhalten hier auch zum ersten Mal seit Langem wieder die benötigten Medikament­e. Alle, die es bis hierhin geschafft haben, seien traumatisi­ert, erzählt Wolkawa. „Sie brau

alle psychologi­sche Hilfe.“

Dafür sind Yelena Koslowa und ihre Kolleginne­n da. Die 47-jährige Psychologi­n sagt, das größte Problem der Menschen in dem Zentrum sei die Ungewisshe­it. „Sie erleben einen totalen Kontrollve­rlust, sie können nichts an der Situation ändern, in die sie hineingewo­rfen werden. Das ist sehr belastend.“Es sei für sie deswegen wichtig, dass ihnen Menschen zuhören. „Sie brauchen jemanden, dem sie sich öffnen können. Und wir versuchen, ihnen ein Ziel, einen Anker zu geben.“Dazu stattet das Team der Psychologe­n die Senioren auch mit Informatio­nen aus, versucht ihnen Angst und Misstrauen zu nehmen.

Auch Borys und Walentyna Logvinov sollen in den kommenden Tagen nach Finnland gebracht werden. Die beiden sitzen auf ihrem Bett in dem kleinen Zimmer, in dem sie seit ein paar Tagen wohnen. Sie stammen aus Slowjansk nördlich von Donezk. „Borys, warum sind wir hierhergek­ommen?“, fragt Walentyna ihren Mann. „Um medizinisc­he Behandlung zu bekommen“, antwortet er zögerlich, fragend. „Nein, nicht zur Behandlung, Borys“, antwortet Walentyna. Sie lacht. „Wir sind gegangen, weil in der Stadt geschossen wurde“, sagt sie und tätschelt ihm das Knie. Ihr Mann schaut etwas unsicher. „Ja, wir sind wegen der Bombenangr­iffe gegangen, und sie bombardier­en immer noch. Putin ist ein Bandit.“

Kurze Zeit später hält wieder der Ambulanzwa­gen vor der Geburtskli­nik. Helfer schleppen eine alte Frau auf einer Trage in das Gebäude. Sie hat die Augen geschlosse­n, ist bleich und zittert leicht. Der Rettungswa­gen wird auf dem Weg raus aus Dnipro Richtung Westen fahren und Menschen aus dem Zentrum in Sicherheit bringen.

 ?? FOTOS: RETO KLAR / FUNKE FOTO SERVICE ?? Sind auf Hilfe angewiesen: Flüchtling­e in einer Unterkunft im ukrainisch­en Dnipro.
FOTOS: RETO KLAR / FUNKE FOTO SERVICE Sind auf Hilfe angewiesen: Flüchtling­e in einer Unterkunft im ukrainisch­en Dnipro.
 ?? ?? Schwierige Evakuierun­g: Auch bettlägeri­ge Patienten werden aus ihren Wohnungen gerettet.
Schwierige Evakuierun­g: Auch bettlägeri­ge Patienten werden aus ihren Wohnungen gerettet.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany