Recht auf Abtreibung in den USA vor dem Aus
Supreme Court urteilt bis zum Sommer – Mehrheit der Richterinnen und Richter soll die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ablehnen
Washington. Normalerweise herrscht nachts rund um den Obersten Gerichtshof in Washington Totenstille. Am frühen Dienstagmorgen dominierten dagegen Sprechchöre, Trillerpfeifen und Politplakate die Szenerie vor der wichtigsten Streitschlichtungsinstanz Amerikas. Hunderte Gegner und Befürworter von Abtreibungen waren nach der wohl größten Mediendurchstecherei der jüngeren Geschichte zum Schauplatz geeilt, um Flagge zu zeigen in einem Fall, der ab sofort die innenpolitische Debatte in den USA dominieren wird.
Das Magazin „Politico“hatte zuvor einen fast 100-seitigen Entwurf einer bis Ende Juni/Anfang Juli anstehenden Entscheidung des Supreme Court über ein Abtreibungsgesetz im Süd-Bundesstaat Mississippi in die Hände bekommen.
Wortführer Samuel Alito, einer von sechs konservativen Juristen im Gremium, bezeichnet darin das fast 50 Jahre alte Grundsatzurteil, das Schwangerschaftsabbrüche landesweit legalisiert, als „von Anfang an ungeheuerlich falsch“. Er warb scharf dafür, das von Frauenverbänden, Demokraten und Liberalen als Meilenstein betrachtete Urteil von 1973 – bekannt als „Roe gegen Wade“– aufzuheben und die Zuständigkeit für Abtreibungen allein den Bundesstaaten zu überlassen. Dieser Meinung sollen sich die
Richterinnen und Richter Amy Coney Barrett, Neil Gorsuch, Clarence Thomas und Brett Kavanaugh in einer Probeabstimmung angeschlossen haben. Elena Kagan, Sonia Sotomayor, der bald ausscheidende Stephen Breyer und Supreme-CourtChef John Roberts bereiteten abweichende Meinungen vor, seien aber zahlenmäßig unterlegen.
Ungeachtet des Ausgangs gilt der Ruf des Obersten Gerichts als der letzten unabhängigen Instanz durch die Durchstecherei bereits jetzt als stark beschädigt. Der Vorsitzende Roberts bestätigte die Echtheit des Entwurfs, betonte aber, dass die endgültige Entscheidung der neun Richterinnen und
Richter noch ausstehe. Zudem beauftragte er eine Untersuchung durch die Gerichtspolizei zum Ursprung der Indiskretion.
Das Urteil „Roe gegen Wade“vom 22. Januar 1973 war eine epochale Grundsatzentscheidung. Frauen erhielten erstmals das verfassungsmäßige Recht, über einen Schwangerschaftsabbruch und damit über ihren Körper frei entscheiden zu können, solange der Fötus noch nicht außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig ist. Also bis etwa zur 22. bis 24. Schwangerschaftswoche.
Wird diese Regel gekippt, geht die Zuständigkeit an die Bundesstaaten: Über 20 republikanisch regierte Bundesstaaten haben schon Absechsten treibungsgesetze vorbereitet oder verabschiedet, die Schwangerschaftsabbrüche bereits nach der
Woche de facto so gut wie unmöglich machen. 16 Staaten in demokratischer Verantwortung schützen dagegen bisher das Recht auf Abtreibung.
Präsident Joe Biden sagte, das Recht einer Frau, entscheiden zu können, sei „fundamental“. „Roe versus Wade“müsse bleiben, weil es seit 50 Jahren Gesetzeskraft besitze und Vertrauensschutz verdiene. Biden rief dazu auf, bei den Kongresswahlen im Herbst mehr Befürworter des Rechts auf Abtreibung zu wählen. Sollte ein Gesetz verabschiedet werden, dass „Roe versus Wade“parlamentarisch absichert, werde er es unterzeichnen. Bisher fehlen den Demokraten dafür aber die nötigen Mehrheiten.