Rätsel des Mount Everests
Manchmal gibt es erlebte und kaum gegrüßte Augenblicke, die sich erst später aus der Erinnerung auf sonderbare Weise herausschälen und dabei an Kraft und Wertschätzung gewinnen.
Sherpa Mingma war unser Begleiter am Bergmassiv des Annapurna, diesem Achttausender im Himalaya. Viele nicht alltägliche Begegnungen prägten unser gemeinsames Vorwärtskommen hinauf zum Thorong La-Pass.
Wir lernten Mingma in unzähligen Bewährungssituationen von einer ganz besonderen Seite kennen. Mingmas Abbild und die bemerkenswerten Konturen seines buddhistisch geformten Charakters nahm ich mit nach Hause.
Mit der Zeit beschlich mich ein Gefühl der Unzufriedenheit. Die dürftigen Informationen über seine Herkunft im Everest-Gebiet waren der Preis für meine Nachlässigkeit. Der konkrete Name seines Heimatdorfes blieb mir bis heute leider ein Rätsel, denn ich erfragte ihn nicht zur rechten Zeit.
Drei Jahre nach unserer Annapurna-Umrundung stiegen wir in das Everest-Basislager auf. In meinem Rucksack steckte Mingmas Foto als Helfer für unsere Spurensuche. Wir durchquerten Bergdörfer des Solu Khumbu, die ich zu besonderen Begegnungsstätten mit den Einheimischen machte.
Mingmas Foto war der lebhafte Versammlungsmittelpunkt. Es ging durch viele Hände und wurde von unzähligen neugierigen Augenpaaren betrachtet, die aufleuchteten, wenn sie das Gesicht von einer Person Ihresgleichen auf dem Bild sahen.
Wieder und wieder glitten die Finger über die Oberfläche des Fotos, als wolle ihr Betasten zur endgültigen Aufklärung beitragen. Das anfängliche theatralische Erstaunen und der Eifer ebbten schließlich zur Ratlosigkeit ab.
In meinem Tagebuch vermerkte ich den Satz: Die Suche nach Mingma ist erfolglos geblieben, und doch nehme ich ein Quäntchen Zuversicht mit nach Hause und baue auf das Spiel künftiger Zufälle oder Fügungen.