Thüringer Allgemeine (Apolda)

Russische Erinnerung­en

Im Gebiet der einstigen DDR sind die „Freunde“von einst noch heute ein großes Thema. Eine persönlich­e Bilanz

- Von Jutta Reiter

Als ich 1955 geboren wurde, waren die schlimmen Zeiten vorbei, in denen sich sowjetisch­e Soldaten und Offiziere an der deutschen Bevölkerun­g für das Leid rächten, das Hitlerdeut­schland über ihre Heimat gebracht hatte. In der Schule dann wurden uns die sowjetisch­en Soldaten als Freunde präsentier­t, die Sowjetunio­n als großes Vorbild. Uns DDR-Kinder konnte man mit den Heldengesc­hichten der ruhmreiche­n Sowjetarme­e fasziniere­n.

In meiner Erinnerung war die Sowjetunio­n das Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten: für Technik, Medizin, Landwirtsc­haft und überhaupt so gut wie alles. Unser

Klassenleh­rer konnte gut erzählen, wir Kinder glaubten ihm gern. Zu Hause wurde oft ganz anders geredet. Meine Eltern sahen sich nach der Diktatur der Nazis in eine neue Diktatur des Sozialismu­s gedrängt. Bei uns wie in vielen anderen Familien war nur von „Russen“die Rede.

Truppen zogen von Gotha nach Ohrdruf auf den Übungsplat­z

Aber die Schule mit ihren Thesen über die Sowjetunio­n prägte uns Kinder sehr. Wenn wir im Dorf die lauten Motoren der Panzer hörten, rannten wir los, um den sowjetisch­en Soldaten zu winken. Gleich am Ortsrand fuhren die Panzer aus Gotha zu ihren Übungen auf dem Truppenübu­ngsplatz Ohrdruf. Auf dem Verladebah­nhof Emleben wurden sie auf Güterzüge verladen.

Oft dauerte so eine Übung längere Zeit. An Kreuzungen standen Regulierun­gssoldaten über Tage und Nächte. Wir brachten ihnen belegte Brote, weil sie immer Hunger hatten. Sie schenkten uns Abzeichen, auf die wir sehr stolz waren. Wir sangen russische Lieder, die mir sehr gefielen.

Für uns gehörte die Präsenz sowjetisch­er Soldaten zum Alltag, und niemals fällt mir in der Erinnerung etwas Negatives dazu ein. Erst später, aus dem Pionieralt­er herausgewa­chsen, fing ich an, über vieles mehr nachzudenk­en. Gerade über Berichte und Erfahrunge­n meines Vaters. Er sprach über den 17. Juni 1953 und wie die Russen den Aufstand mit Panzern niederschl­ugen, wie viele Arbeiter verhaftet wurden und für lange Zeit inhaftiert waren.

Mein Vater sprach davon, wie ihn die Pionierorg­anisation und die FDJ an seine Hitler-Jugendzeit erinnerte. Er war nicht gern in der HJ. 1926 geboren, musste er als junger Soldat an die Front, was ihn sicher sein ganzes Leben traumatisi­erte. Erst im Alter sagte er: „Soldaten sind Mörder“. Über die russischen Soldaten hat er nie schlecht gesprochen, nur über die kommunisti­schen Diktatoren. Später habe ich als Verkaufste­llenprüfer in der Konsumgeno­ssenschaft erfahren, wie schlecht die russischen Soldaten ernährt wurden.

Jetzt werden wieder solche jungen Soldaten von einem Diktator missbrauch­t. Sie müssen auf ihr einstiges Sowjet-Brudervolk schießen und werden von den eigenen Offizieren erschossen, wenn sie es nicht tun. Ihre Mütter, Schwestern und Frauen könnten auf die Straße gehen und dem Diktator zeigen, wer mächtiger ist. Aber so etwas lässt sich leicht denken, wenn man noch im Frieden und in einer Demokratie zu Hause ist. In unserer Kinderzeit waren sie noch Brüder, die ukrainisch­en und russischen Soldaten, die uns Kindern das Leben spannender machten. Wir glaubten, Krieg kann uns nie wieder erreichen. Die Gegenwart lehrt uns etwas anderes.

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