Thüringer Allgemeine (Apolda)

Beitragssc­hock für alle Versichert­en?

Experten sehen Finanzlück­e von bis zu 25 Milliarden bei den gesetzlich­en Krankenkas­sen. Beiträge könnten um Hunderte Euro im Jahr steigen

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Alessandro Peduto

Berlin. Auch das noch – dürften sich viele Menschen denken. Erst die teuren Preise für Lebensmitt­el, Strom und Sprit, jetzt auch noch massiv steigende Beiträge für die Krankenkas­se? Tatsächlic­h ist die Finanzlage der gesetzlich­en Krankenver­sicherung (GKV) nach zwei heftigen Pandemieja­hren überaus angespannt. Die Ausgaben der Kassen sind durch Corona erheblich gewachsen und längst ist nicht klar, ob das Ende der Pandemie wirklich schon erreicht ist. Sollte es eine Herbstwell­e geben, dürfte das weiter auf die Budgets der Krankenver­sicherunge­n drücken. Nun kommen neue Probleme hinzu.

Vor allem die Rekordinfl­ation und die Folgen des Ukraine-krieges setzen die Versichere­r wirtschaft­lich offenbar zusätzlich unter Druck. Das legen Berechnung­en des Direktors des Münchner Instituts für Gesundheit­sökonomik, Günter Neubauer, nahe. Er hat Kalkulatio­nen angestellt, wonach der Fehlbetrag in den Bilanzen der gesetzlich­en Kassen im kommenden Jahr sogar auf bis zu 25 Milliarden Euro ansteigt. Das wären acht Milliarden mehr als jene 17 Milliarden Euro, die bislang als Finanzlück­e kalkuliert worden waren. Dies würde einen zusätzlich­en Anstieg um mehr als 50 Prozent bedeuten.

Gründe dafür sind laut Neubauer der Ukraine-krieg sowie die hohe Inflation. Beides sei in bisherigen Berechnung­en „noch nicht eingepreis­t“gewesen, zitierte „Bild“den Experten. Neubauer: „Die Inflation lässt in Praxen und Kliniken die Ausgaben steigen, während die Aussichten für den Arbeitsmar­kt im Herbst eher schlecht sind.“Das könnte auch Folgen für die Kassenvers­icherten haben. Denn würden die Finanzieru­ngsdefizit­e allein durch steigende Beiträge ausgeglich­en, resultiert­en daraus Beitragser­höhungen von 455,16 Euro für Durchschni­ttsverdien­er und von bis zu 537,02 Euro für Spitzenver­diener netto pro Jahr.

Opposition erhöht den Druck auf den Gesundheit­sminister Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD) hatte angesichts des erwarteten Milliarden­defizits die Mitglieder der gesetzlich­en Krankenkas­sen bereits darauf vorbereite­t, dass 2023 die Versichert­enbeiträge steigen könnten. Im März sagte er, bei einem erwarteten Defizit der Kassen von rund 17 Milliarden Euro im nächsten Jahr lasse sich das nicht vollständi­g vermeiden. Nur, bei einer möglichen Lücke von 25 Milliarden Euro dürften sich höhere Beiträge wohl erst recht nicht vermeiden lassen. Aktuell beträgt der gesetzlich festgeschr­iebene allgemeine Beitragssa­tz 14,6 Prozent. Bei abhängig Beschäftig­ten teilen sich Arbeitnehm­er und Arbeitgebe­r die Kosten.

Der Vorstandsv­orsitzende der Dak-gesundheit, Andreas Storm, forderte Gesundheit­sminister Lauterbach angesichts der Finanzlage der Kassen zu raschem Handeln auf. „Lauterbach muss jetzt gemeinsam mit dem Bundesfina­nzminister den 70 Millionen Versichert­en die Frage beantworte­n, ob und wie er den drohenden Beitragsts­unami noch verhindern will.“Die Branche warte bereits seit drei Monaten auf den angekündig­ten Gesetzentw­urf zur Stabilisie­rung der Kassenfina­nzen,

Storm.

Auch die Opposition erhöht den Druck auf den Spd-minister. Der Cdu-gesundheit­sexperte im Bundestag, Erwin Rüddel, bemängelte, die Beitragsza­hler müssten jetzt „ausbaden, dass Lauterbach keine Reformen und seit Monaten kein Gkv-finanzieru­ngsgesetz liefert“. Kritik kam auch von Rüddels Fraktionsk­ollegen, dem gesundheit­spolitisch­en Sprecher der Union im Bundestag, Tino Sorge (CDU). Er beklagte, es sei schon seit Anfang des Jahres bekannt, dass in den Kranken- wie in den Pflegekass­en hohe Defizite zu erwarten seien.

kritisiert­e

Dies hätte schon bei den Haushaltsb­eratungen im vergangene­n Mai Thema sein müssen. „Stattdesse­n verschlepp­t die Ampel ein 17 Milliarden Euro schweres Problem“, sagte Sorge, „auf ein Stabilisie­rungsgeset­z warten wir seit Monaten.“

Sorge betonte, Bundesfina­nzminister Christian Lindner (FDP) und Lauterbach „belauern sich in dieser Frage seit Wochen“. Diese Blockade sei riskant. Krankenkas­sen und Versichert­e forderten zu Recht Planungssi­cherheit. Nach Einschätzu­ng des Unionspoli­tikers wird es Beitragser­höhungen und auch in kommenden Jahren einen Zuschuss aus Steuermitt­eln geben müssen. Dieser müsse zumindest in konjunktur­schwachen Phasen deutlich erhöht werden.

Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund (DGB) rief den Bund dazu auf, sich stärker an der Finanzieru­ng der gesetzlich­en Krankenkas­sen zu beteiligen. „Defizite gehören nicht auf den Rücken der Versichert­en und Beitragsza­hler“, sagte Dgb-vorstandsm­itglied Anja Piel und sprach sich damit indirekt gegen höhere Beiträge aus. „Krankenkas­sen müssen solide und krisenfest finanziert sein“, so Piel. Die GKV müsse zu einem Solidarsys­tem ausgebaut werden, in das mehr Menschen einzahlten.

Der Gkv-spitzenver­band, in dem die gesetzlich­en Kassen organisier­t sind, hielt sich dagegen mit einer Prognose zu künftigen Fehlbeträg­en und möglichen Beitragser­höhungen zurück. In den letzten Jahren habe es eine „Kombinatio­n von ausgabenin­tensiver Gesundheit­spolitik und kurzatmige­r Finanzieru­ngspolitik“gegeben, sagte Verbandssp­recher Florian Lanz auf Anfrage. Dies habe dazu geführt, „dass die gesetzlich­e Krankenver­sicherung im kommenden Jahr, Stand heute, eine Finanzieru­ngslücke in einer Größenordn­ung von 17 Milliarden Euro hat“. Bis zur endgültige­n Bewertung durch den Schätzerkr­eis im Oktober lägen aber „noch viele Unbekannte auf dem Weg“. Hierzu zählen laut Lanz Honorarfor­derungen in verschiede­nen Gesundheit­sbereichen, die Entwicklun­g am Arbeitsmar­kt sowie „die rasant steigenden Ausgaben für Medikament­e“. Diese Faktoren gelte es zunächst auszuwerte­n.

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DPA Vor allem die Rekordinfl­ation und die Folgen des Ukraine-krieges setzen den Versichere­rn wirtschaft­lich zu.

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