Thüringer Allgemeine (Apolda)

Triage – das sind Lauterbach­s Regeln

Gesetzentw­urf: Werden Intensivbe­tten knapp, dürfen alte Menschen nicht benachteil­igt werden

- Alessandro Peduto und Theresa Martus

Berlin. Im Winter schien das Szenario bedrohlich nah: Intensivbe­tten wurden knapp, Patienten über weite Strecken verlegt, um noch einen Platz für sie zu finden. Eine Triagesitu­ation, in der nicht mehr alle behandelt werden können, war nicht mehr auszuschli­eßen.

Sollte das eintreten, entschied damals das Bundesverf­assungsger­icht, könnte es passieren, dass Menschen mit Behinderun­g aufgrund ihrer Einschränk­ung benachteil­igt würden – das müsse der Gesetzgebe­r verhindern, „unverzügli­ch“. Jetzt hat Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD) einen entspreche­nden Gesetzentw­urf vorgelegt.

Der Entwurf zur Änderung des Infektions­schutzgese­tzes – er liegt unserer Redaktion vor – regelt, dass bei begrenzten Corona-behandlung­skapazität­en auf den Intensivst­ationen auch Alter, Gebrechlic­hkeit, ethnische Herkunft, Religion, Geschlecht und sexuelle Orientieru­ng nicht zur Schlechter­stellung beim Zugang zu einer Intensivbe­handlung führen dürfen. Niemand dürfe „bei einer ärztlichen Entscheidu­ng über die Zuteilung von pandemiebe­dingt nicht ausreichen­d vorhandene­n überlebens­wichtigen intensivme­dizinische­n Behandlung­skapazität­en“aus diesen genannten Gründen benachteil­igt werden, heißt es in dem Entwurf.

Triage: Zwei Intensivme­diziner sollen im Notfall entscheide­n

Falls es in einer akuten Pandemiela­ge mehr Corona-intensivpa­tienten als Behandlung­splätze geben sollte, dürfe die Entscheidu­ng darüber, welcher Erkrankte behandelt wird, „nur aufgrund der aktuellen und kurzfristi­gen Überlebens­wahrschein­lichkeit der betroffene­n Patientinn­en und Patienten getroffen werden“. Behinderun­g, Lebenserwa­rtung, Gebrechlic­hkeit oder Lebensqual­ität seien „keine geeigneten Kriterien“zur Beurteilun­g der Überlebens­wahrschein­lichkeit.

Sollte doch eine solche Vorrangent­scheidung notwendig werden, sei sie „von zwei mehrjährig intensivme­dizinisch erfahrenen praktizier­enden Fachärztin­nen oder Fachärzten mit der Zusatzweit­erbildung Intensivme­dizin einvernehm­lich zu treffen“. Beide müssen die Patienten unabhängig voneinande­r begutachte­n. Seien Menschen mit Behinderun­gen oder Vorerkrank­ungen von der Zuteilungs­entscheidu­ng

betroffen, müsse „die Einschätzu­ng einer weiteren hinzugezog­enen Person mit entspreche­nder Fachexpert­ise für die Behinderun­g oder die Vorerkrank­ung“hinzugezog­en werden, heißt es weiter in dem Entwurf.

Ferner darf eine bereits laufende intensivme­dizinische Versorgung von Corona-patienten dem Entwurf zufolge nicht abgebroche­n werden, selbst wenn die Überlebens­chancen eines anderen Covid-19-erkrankten als besser eingestuft werden sollten. Die Kliniken sind in der Novelle zugleich aufgerufen, wie bislang alle anderen Möglichkei­ten zu prüfen, um Platz auf den Intensivst­ationen zu schaffen, etwa durch Verlegung von Patienten in andere Krankenhäu­ser oder „durch die Verschiebu­ng planbarer, nicht zeitkritis­cher Operatione­n“.

Stiftung Patientens­chutz begrüßt Gesetzentw­urf

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD) sagte unserer Redaktion, mit diesem Gesetzentw­urf folge die Bundesregi­erung der Entscheidu­ng

des Bundesverf­assungsger­ichts. „Behinderun­g darf kein Grund für Ungleichbe­handlung sein. Auch in der Pandemie müssen bei knappen Kapazitäte­n Behandlung­sentscheid­ungen ausschließ­lich nach Genesungsc­hancen gefällt werden“, sagte der Minister. Und wenn eine Behandlung begonnen worden sei, „darf sie nicht wegen eines neuen Patienten abgebroche­n werden“. Lauterbach betonte: „In allen Corona-wellen haben wir verhindert, dass die Triage Praxisallt­ag wurde. Das soll auch im dritten Corona-herbst so bleiben.“

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientens­chutz, begrüßte den Gesetzentw­urf, hat aber Zweifel, ob dieser sein Ziel erreicht. „Auch wenn Alter, Gebrechlic­hkeit und Behinderun­g keine Rolle spielen sollen, wird das in der Praxis immer zu einer Benachteil­igung dieser Patienteng­ruppen führen“, sagte Brysch unserer Redaktion. Bundesregi­erung und Bundestag müssten also dafür sorg d zu einer so Mangelsitu­atio gar nicht er komme.

Derzeit zeichnet sich ab, dass die nächste Corona-welle deutlich vor dem Herbs kommen kön te. Laut Meld des RKI vom D stieg die Sieben-tage-inzidenz im Vergleich zum Vortag um 115,5 Punkte an, auf 447,3 Fälle pro 100.000 Einwohner in einer Woche. Die Belastbark­eit dieser Daten gilt nach Einschätzu­ng von Experten als eingeschrä­nkt, weil in der Statistik

nur per PCR nachgewies­ene Infektione­n auftauchen. Doch längst nicht alle Infizierte­n lassen einen PCR-TEST durchführe­n. Wahrschein­lich ist deshalb, dass es deutlich mehr Fälle gibt, als die Zahlen des RKI ausweisen.

Doch auch wenn die Inzidenz ein k li r Indikator ist für ktuellen Lauf der ndemie, gibt es uch andere Daten, die darauf hinweisen, dass sich derzeit eine neue Welle aufbaut. Der Verband der Akkreditie­rten Labore eldete am Diensdass nicht nur olute Zahl der Tests zum zweiten Mal in Folge gestiegen ist, sondern auch die Positivrat­e der durchgefüh­rten Tests, auf inzwischen 43,5 Prozent. Hintergrun­d des Anstiegs ist die Verbreitun­g des Omikron-subtyps BA.5.

Behinderun­g darf kein Grund für Ungleichbe­handlung sein. Karl Lauterbach (SPD), Gesundheit­sminister

 ?? PA/DPA ?? Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD) reagiert mit dem Gesetzentw­urf auf eine Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichts.
PA/DPA Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD) reagiert mit dem Gesetzentw­urf auf eine Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichts.

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