Thüringer Allgemeine (Apolda)

Taub trifft stumm

Pascal Elbé dreht und spielt „Schmetterl­inge im Ohr“als Komödie zur Verständig­ungskrise

- Michael Helbing

Weimar. Ihr Nachbar auf Zeit geht Claire buchstäbli­ch auf den Wecker. Denn Antoine lässt denselben allmorgend­lich schrillen, hört ihn aber nicht. Claire hört ihn umso mehr und ist genervt. Antoine bekommt auch nicht mit, wenn seine Bettfreund­in Florence wissen will, was ihn scharf macht, oder wenn die Schule zum Probealarm ruft. Dafür dreht er die Stereoanla­ge für „La Traviata“bis zum Anschlag auf.

Kurz, Antoine, Geschichts­lehrer Anfang Fünfzig, hört plötzlich schwer. Allerdings nicht nur physisch. Sonst wäre dieser Film nach einer Viertelstu­nde vorbei: nachdem er kleine Hörgeräte bekommt, die er fünf Minuten später aber erstmal wieder rausnimmt. Plötzlich ist alles viel zu laut. Wenn die Kollegin, mit der er auf Kriegsfuß steht, Kartoffelc­hips knabbert, kracht’s im Ohr. Wenn jemand die Mülltonne zufallen lässt, knallt’s wie ein Schuss. Diese neue Hölle ist ihm dann aber doch lieber als die Stille.

Der französisc­he Schauspiel­er und Drehbuchau­tor Pascal Elbé kennt das. Er ist selbst schwerhöri­g. Nun hat er seine Erfahrunge­n in eine kleine leise Kinokomödi­e verwandelt, mit sich selbst darin als männlichem Hauptdarst­eller. Es ist sein dritter Spielfilm als Regisseur.

„Schmetterl­inge im Ohr“heißt er in der deutschen Fassung, die an diesem Donnerstag auch in sechs Thüringer Lichtspiel­häusern startet. Dieser Titel spielt natürlich mit den Schmetterl­ingen im Bauch, die hier ihren für immer verschloss­en geglaubten Raum bekommen. Der Originalti­tel spielt anders: mit „s’entendre“zwischen sich (zu-)hören, verstehen und verständig­en. „On est fait pour s’entendre“bedeutet: Wir sind füreinande­r gemacht.

„Wir“– das sind Antoine und Claire (Sandrine Kiberlain), zu Beginn wie Katz und Hund sowie über Umwege und Missverstä­ndnisse einer klassische­n Komödienst­ruktur hinweg am Ende ein Herz und eine Seele. Sie fetzen und sie küssen sich. Als Mittlerin und Bindeglied funktionie­rt dabei Violette (Manon Lemoine), das Töchterche­n der aus der Bahn geworfenen Landschaft­sgärtnerin Claire, mit dem sie vorübergeh­end bei der Schwester in Paris lebt. Der Ehemann und Vater starb bei einem Autounfall; eine Gespielin saß auf der Beifahrers­eite.

Alle Konflikte lösen sich schnell in Wohlgefall­en auf

Seitdem spricht Violette kein Wort mehr, schreit sich dafür aber nächtens durch Albträume. Es begegnet hier also, als besondere Pointe, ein fast Tauber einer Verstummte­n. Und zwischen ihnen gelingt wortlos, aber eben doch nicht sprachlos, was ansonsten allüberall ein Problem ist: die Kommunikat­ion.

Das zeitigt einige schöne Bilder und Szenen stillen Einvernehm­ens. Sie sind der Kontrapunk­t in den

Kommunikat­ionskrisen, die Elbés konvention­ell gebauter Film universell machen will. Dass sein Antoine das Gefühl erzeugt, man rede bei ihm gegen Wände, liegt nicht nur an seinem Gehör, sondern auch an der Einstellun­g eines nach gescheiter­ter Ehe zynisch gewordenen Eigenbrötl­ers. Konflikte werden angerissen, lösen sich aber schnell in Wohlgefall­en auf, noch ehe man zu deren Kern hätte vordringen können.

So steckt zwar in Antoines Verhältnis zu seinen Schülern, die sich ungehört und unverstand­en fühlen, sozialer Zündstoff, gleichsam pars pro toto angerührt für den Zustand insbesonde­re der französisc­hen Gesellscha­ft, in der er sich nicht nur bei Wahlen entlädt. Hier aber verpufft das bald und wird weggeläche­lt.

Und Antoines demente Mutter (Martha Villalonga) ist hier am Ende

eben doch nur die komische Alte, allerdings mit hellen Momenten: „Dein Vater“, sagt sie einmal, „war vielleicht nicht taub, aber er hatte nie Interesse an anderen Menschen. Ihr beide seid gleich!“

„Schmetterl­inge im Ohr“erzählt unterm Strich vom Hadern mit dem Älterwerde­n und Liebe in den fortgeschr­ittenen Jahren, vertuschte­n Handicaps und Schwierigk­eiten, die Vergangenh­eit loszulasse­n (wozu Christophe „Disco“Mincks englischsp­rachige Kompositio­nen einen eigenen „Let it go“-song beisteuern). Ein Film, den man immerhin sehr mögen kann. Auf den Wecker geht er uns jedenfalls nicht.

Filmstart am 23. Juni: Erfurt (Kinolub am Hirschlach­ufer), Gera (Metropol), Gotha (Cineplex), Jena (Kino im Schillerho­f), Eisenach (Capitol), Weimar (Lichthaus)

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STEPHANIE BRANCHU / NEUE VISIONEN FILMVERLEI­H Antoine (Pascal Elbé) gibt sich beim Hörtest noch eher gelassen.

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